Formenlehre V - Lautstärkemodelle zur Sinfonie
Eine unterrichtsdidaktische Ausarbeitung der hier besprochenen Beispiele für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen findet sich in dem OpenBook Fomenlehre der Musik (S. 33−36) von Ulrich Kaiser.
- Licht und Schatten
- Ein vierteiliges Lautstärkemodell für Expositionen
- 58. Hörbeispiel: W. A. Mozart, Sinfonie in Es-Dur KV 132, 1. Satz, Exposition
- 59. Hörbeispiel: W. A. Mozart, Sinfonie in Es-Dur KV 543, 1. Satz, Exposition
- 60. Hörbeispiel: W. A. Mozart, Sinfonie in G-Dur KV 318, 1. Satz, Exposition
- 61. bis 64. Hörbeispiel: Aufgaben
- Ein sechsteiliges Lautstärkemodell für Expositionen
- 65. Hörbeispiel: W. A. Mozart, Sinfonie in A-Dur KV 201, 1. Satz, Exposition
- 66. Hörbeispiel: W. A. Mozart, Sinfonie in D-Dur KV 297 (›Prager‹), 1. Satz, Exposition
- 67. Hörbeispiel: J. Haydn, Sinfonie in G-Dur Hob. I:100, 1. Satz, Exposition
- 68. bis 70. Hörbeispiel: Aufgaben
- Probleme
- Zur Didaktik
- Weitere Hörbeispiele zur Formenlehre und Literatur
Licht und Schatten
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die dynamische Gestaltung eines Sinfoniesatzes mit der Malerei verglichen. Licht und Schatten in Werken der Malerei galten dabei als Äquivalente zu Laut und Leise in der Musik. Davon, dass die Dynamik, die in heutigen Analysen nicht selten vernachlässigt wird, im 18. Jahrhundert als wichtiges Moment der Formgebung angesehen wurde, zeugen zahlreiche Quellen der Zeit:
Denn piano und forte kann unmöglich eine neue Erfindung seyn, indem es in der Musik nichts anders ist, als Schatten und Licht bey den Mahlern.
Riepel 1752, S. 22.
Auch die Abwechslung des Forte und Piano muß genau in Acht genommen werden.
Wie zur Malerey Licht und Schatten gehöret, so müßen auch in der Harmonie Con- und Dissonanzen, sodann in der Melodie Forte und Piano abwechseln.
Daube 1798, S. 23.
Ein Mozard hat es genug gezeiget. Unvermuthete Uebergänge in entfernte Tonarten. Das Helldunkel oder Licht und Schatten brillirt itzo; das heißt: starkes mit aushaltenden, allmöglichen Instrumenten begleitetes Laufwerk, Forte, Forzando, Krescendo etc. wird vorgetragen; dann widrige Abwechselung mit dem schwachbesetzten Singbaren.
Daube 1798, S. 57.
Diese Tatsache ermöglicht es uns heute, Modelle des dynamischen Verlaufs zu entwickeln und zur Analyse von Formfunktionen in der Sonatenhauptsatzform einzusetzen. Insbesondere für die weitaus mehr formalisierten Verläufe von Expositionen bietet sich die Entwicklung von Modellen an. Die intrinsische Bestimmung der Exposition mithilfe von Lautstärkemodellen sowie die (modifizierte) Wiederkehr der Exposition als Reprise erlaubt darüber hinaus eine extrinsische Bestimmung der Durchführung als Mittelteil der Sonatenhauptsatzform bzw. als ABA-Form sinfonischer Werke.
Ein vierteiliges Lautstärkemodell für Expositionen
Hörbeispiel 58: Ein gutes Modell lässt sich aus dem Kopfsatz der Exposition der Sinfonie in Es-Dur KV 132 von Mozart entwickeln.
Quelle: YouTube.
Definitionen der Formfunktionen Hauptsatz, Überleitung, Seitensatz und Schlussgruppe auf der Grundlage des dynamischen Verlaufs von Sinfonieexpositionen:
- Der Hauptsatz dieser Sinfonie ist dynamisch auf eine charakteristische Art und Weise gestaltet worden, die in der Mozartforschung auch als antithetischer Eröffnungstypus bezeichnet wird. Ein antithetischer Eröffnungstypus besteht aus dem dynamischen Verlauf f-p-f-p, wobei die Forte-Abschnitte in der Regel durch ein Tutti-Unisono, die Piano-Abschnitte hingegen durch einen hellen Streicherklang (ohne Beteiligung des tiefen Bassregisters) gestaltet wurden.
- Die Überleitung besteht aus einer längeren Passage im forte. Sie endet in der Regel mit einem Halbschluss der Ausgangstonart (= nicht-modulierende Überleitung) oder einen Halbschluss der Nebentonart (= modulierende Überleitung). Charakteristisch für Überleitungen ist gegenüber dem Hauptsatz auch eine schnellere Bewegung z.B. durch Tremolo oder Sechzehntelpassagen.
- Der Seitensatz ist ein längerer Abschnitt im piano nach der Überleitung. Für diese Formfunktion ist wiederum der Klang der hohen Streicher sowie solistische Bläserfarben (›durchbrochene Arbeit‹) charakteristisch. Gelegentlich findet sich an dieser formalen Position auch ein Wechsel zwischen lauten und leisen Abschnitten (auch in gegenüber dem Hauptsatz umgekehrter Folge p-f-p-f wie z.B. in der Sinfonie in F-Dur Anh. 223/KV 19a).
- Die Schlussgruppe ist der Teil der Exposition, in dem das emphatische Schließen stattfindet. Für Schlussgruppen ist das forte ebenso charakteristisch wie die virtuose Geste z.B. durch schnelle Sechzehntelpassagen oder Tremolo. Häufig endet die Schlussgruppe mit einer breit angelegten und virtuosen Kadenz in der Nebentonart (der sogenannten »Arientriller«-Kadenz).
Für die Termini Seitensatz und Schlussgruppe sind kontingente Definitionen möglich. Die hier vertretene Auffassung widerspricht der verbreiteten Auffassung von Erwin Ratz sowie eines durch ihn geprägten amerikanischen Formenlehre-Diskurses (vgl. hierzu die Ausführungen in dem Aufsatz Formfunktionen der Sonatenform).
Hörbeispiel 59: Ein weiteres Beispiel für eine Exposition, die sich durch das hier vorgestellte vierteilige Dynamikmodell angemessen beschreiben lässt, ist die des Kopfsatzes der 1788 entstandenen Sinfonie in Es-Dur KV 543:
Quelle: YouTube.
Die Abbildung zeigt den Hauptsatzes im Piano, Mozart hat diesen zu einer groß angelegten Periode ausgearbeitet (die dem Allegro vorangestellte langsame Einleitung fehlt in der Abbildung).
Hörbeispiel 60: Und auch die Exposition des Kopfsatzes der Sinfonie in G-Dur KV 318 lässt sich durch das vierteilige Dynamikmodell angemessen verstehen:
Quelle: YouTube.
Der Beginn der Sinfonie lässt sich wie der Anfang der Sinfonie KV 132 über den antithetischen Eröffnungstypus beschreiben. Im weiteren Verlauf dieser Sinfonieexposition ist die Orchesterwalze bzw. das große Crescendo bemerkenswert, das den letzten Forte-Abschnitt einleitet. Darüber hinaus fällt an der Schlussgruppe eine dynamische Unregelmäßigkeiten auf.
Die nachstehende Abbildung zeigt die für die Modellbestimmung vierteiliger Expositionen relevanten dynamischen Übereinstimmungen zwischen den Expositionen der Sinfonien KV 132, KV 543 sowie KV 318 (jeweils Kopfsatz).
Anhand des Modells lassen sich die folgenden Definitionen gewinnen:
Definitionen:
- Der erste Abschnitt einer Sinfonie – durchgehend leise (p) oder als f-p-f-p-Modell – heißt Hauptsatz (bzw. erstes Thema).
- Der erste längere Tutti-Abschnitt nach dem Hauptsatz im forte (f) heißt Überleitung.
- Ein charakteristischer leiser (p) Abschnitt nach der Überleitung heißt Seitensatz oder auch zweites Thema.
- Ein längerer Abschnitt im forte (f) nach dem Seitensatz heißt Schlussgruppe. In diesem Teil findet sich häufig die sogenannte Arientriller-Kadenz.
Aufgaben
Die folgenden Sinfonien können anhand des vierteiligen Lautstärkemodells untersucht werden.
Aufgabenstellung: »Höre dir vier Expositionen aus Sinfonien von Mozart oder Haydn an und zeichne jeweils ein Lautstärkediagramm. Entscheide anschließend, welche Expositionen dem Modell entsprechen und welche nicht.«
Hörbeispiel 61: Wolfgang Amadé Mozart, Sinfonie in A-Dur KV 114, 1. Satz, Exposition (1771). Das vierteilige Lautstärkemodell ist hier passend, die durch das Modell naheliegende Begriffszuweisung allerdings problematisch. Denn im ersten leisen Abschnitt erklingt nur der Vodersatz des Hauptsatzes, der Nachsatz wird im Forte wiederholt und ist erster Abschnitts des lauten Teils. Die Überleitung ist daher erst nach dem Ganzschluss der Ausgangstonart bzw. im Verlauf des Forte anzusetzen (bzw. bei den ›Hornquinten‹).
Quelle: YouTube.
Hörbeispiel 62: Wolfgang Amadé Mozart, Sinfonie in D-Dur KV 141a, 1. Satz, Exposition (1772). Das vierteilige Lautstärkemodell ist hier angemessen, einem relativ langen Hauptsatz, der sich als ›anthitetischer Eröffnungstypus‹ verstehen lässt, folgt eine kurze Überleitung sowie ein noch kürzer Seitensatz. Die Schlussgruppe entspricht in der Länge dem Hauptsatz.
Quelle: YouTube.
Hörbeispiel 63: Wolfgang Amadé Mozart, Sinfonie in D-Dur KV 181, 1. Satz, Exposition (1773). Das vierteilige Lautstärkemodell ist hier nicht angemessen. Der Hauptsatz enthält sehr viele dynamische sowie Dur/Moll-Wechsel, die Überleitung beginnt etwa in der Mitte des ersten längeren leisen Abschnitts. Der folgende laute Abschnitt der Überleitung ist gut erkennbar, der Seitensatz nur mit Fantasie, die Schlussgruppe wiederum entspricht dem Modell. In dieser Sinfonie ist allerdings auch der weitere Verlauf ungewöhnlich: Dem Beispiel folgt ein Abschnitt, der sich als Verlängerung der Exposition verstehen lässt (leiser Abschnitt mit anschließender Wiederholung der Kadenz in der Nebentonart im Forte). Diesem Teil allerdings schließt sich bereits die Reprise an, so dass man entweder von einer ungewöhnlichen oder fehlenden Durchführung ausgehen muss. Das Ende der Reprise legt eine fehlende Durchführung nahe.
Quelle: YouTube.
Hörbeispiel 64: Wolfgang Amadé Mozart, Sinfonie in C-Dur KV 338, 1. Satz, Exposition (1771). Das vierteilige Lautstärkemodell ist hier passend, die Begriffszuweisung allerdings problematisch. Denn im ersten leisen Abschnitt erklingt nur der Vodersatz des Hauptsatzes, der Nachsatz eklingt im Forte und ist der erste Abschnitts des iauten Teils. Die Überleitung beginnt daher erst nach dem Ganzschluss der Ausgangstonart (bzw. bei den ›Hornquinten‹).
Quelle: YouTube.
Ein sechsteiliges Lautstärkemodell für Expositionen
Hörbeispiel 65: An dem Lautstärkediagramm der Exposition des Kopfsatzes der Sinfonie in A-Dur KV 201 scheitert das vierteilige Lautstärkemodell für Expositionen. Insbesondere der dritte längere Piano-Abschnitt lässt weder musikalisch noch von den Proportionen her als lediglich retardierendes Moment in einer Schlussgruppe interpretieren:
Quelle: YouTube.
Aus diesem Grunde wird das vierteilige Lautstärkemodell für Expositionen ab dem Seitensatz zu einem sechsteiligen Modell erweitert:
- Der erste laute (f) Abschnitt nach dem Seitensatz heißt erste Schlussgruppe, wenn er mit einem Ganzschluss oder zweite Überleitung, wenn er mit einem Halbschluss endet. Für die zweite Überleitung bzw. erste Schlussgruppe ist das forte ebenso charakteristisch wie die virtuose Geste z.B. durch schnelle Sechzehntelpassagen oder Tremolo. Nicht selten erklingt in diesem Abschnitte ein farblicher Kontrast (›Molleintrübung‹).
- Ein längerer Teil im Piano (p) nach einer zweiten Überleitung heißt zweiter Seitensatz, erklingt dieser Abschnitt nach einer ersten Schlussgruppe, wird er als Schlussgruppenthema bezeichnet. Vom Charakter her gilt das zum Seitensatz Gesagte (charakteristisch sind der Klang hoher Streicher, solistische Bläserfarben sowie die durchbrochene Arbeit).
- Der laute Abschnitt (f), der nach einem Schlussgruppenthema die Exposition beendet, heißt Schlussgruppe oder zweite Schlussgruppe, je nachdem, ob ihm eine zweite Überleitung oder eine erste Schlussgruppe vorangegangen ist.
Hörbeispiel 66: Die 1778 entstanden Sinfonie in D-Dur KV 297 (›Prager‹) von W. A. Mozart beginnt mit einem Hauptsatz, der sich als antithetischer Eröffnungstypus verstehen lässt. Der Beginn der Überleitung wäre demnach mit den dritten Forte-Abschnitt anzusetzen, wobei in diesem Fall der dritte Piano-Abschnitt als retardierendes Moment in der Überleitung interpretiert werden müsste. Der Überleitung folgt ein Seitensatz aus motivisch unterschiedlich gestalteten Abschnitten und mit einer Molleintrübung gegen Ende, dem sich eine erste Schlussgruppe anschließt. Nach dem Ganzschluss dieser Schlussgruppe schließt sich ein (satzartiges) Schlussgruppenthema an, dass in die zweite Schlussgruppe führt, mit welcher die Exposition beendet wird. Die Gestaltung beider Schlussgruppen ist motivisch an den Beginn des Hauptsatzes angelehnt (›Mannheimer Rakete‹).
Quelle: YouTube.
Der dritte Forte-Abschnitt wurde hier als Beginn der Überleitung interpretiert, lässt sich aber auch als Abschluss des Hauptsatzes verstehen (beim Berühren der Abbildung wird diese Mehrdeutigkeit sichtbar). Die kontingenten Möglichkeiten der Interpretation verweisen dabei auf ein Problem, das etwas später eingehender besprochen werden soll (Abschnitt Probleme).
Hörbeispiel 67: Die Sinfonie Hob.I:100 in G-Dur (›Militär‹) von Joseph Haydn beginnt mit einem periodischen Hauptsatz bzw. 1. Thema im Piano. Die Gestaltung des Vordersatzes durch einen reinen Bläsersatz ist dabei charakteristisch und instrumentationsgeschichtlich bedeutsam. Dem Hauptsatz schließt sich eine Überleitung im Forte an. Der Seitensatz ist monothematisch (das heißt: er wurde motivisch in Anlehnung an den Hauptsatz gestaltet) und die erste Schlussgruppe durch eine Molleintrübung charakterisiert. Das Schlussgruppenthema ist liedhaft, die Exposition wird von einer zweiten Schlussgruppe beendet.
Quelle: YouTube.
Die nachstehende Abbildung zeigt die für die Modellbestimmung sechsteiliger Expositionen relevanten dynamischen Übereinstimmungen zwischen den Expositionen der Sinfonien KV 201, KV 297 sowie Hob.I:100 (jeweils Kopfsatz).
Anhand des Modells lassen sich die folgenden Definitionen gewinnen:
Definitionen:
- Der erste Abschnitt einer Sinfonie – durchgehend leise (p) oder als f-p-f-p-Modell – heißt Hauptsatz (bzw. erstes Thema).
- Der erste längere Tutti-Abschnitt nach dem Hauptsatz im forte (f) heißt Überleitung.
- Ein charakteristischer leiser (p) Abschnitt nach der Überleitung heißt Seitensatz oder auch zweites Thema.
- Ein längerer Abschnitt im forte (f) nach dem Seitensatz heißt zweite Überleitung, wenn er mit einem Halbschluss bzw. erste Schlussgruppe, wenn er mit einem Ganzschluss endet.
- Ein längerer Piano-Abschnitt nach einer zweiten Überleitung heißt zweiter Seitensatz, nach einer ersten Schlussgruppe Schlussgruppenthema.
- Der Abschnitt im forte (f), der die Schlussgruppe beendet, heißt Schlussgruppe im Vorhandensein einer zweiten Überleitung oder zweite Schlussgruppe, wenn ihm eine erste Schlussgruppe vorangegangen ist.
Aufgaben
Die folgenden Sinfonien können anhand der Lautstärkemodelle untersucht werden.
Aufgabenstellung: »Höre dir nun drei weitere Sinfonieexpositionen verschiedener Komponisten an und entscheide, ob diese dem vier- oder sechsteiligen Modell oder keinem der beiden Modelle entsprechen:«
Hörbeispiel 68: Die Exposition der 1771 in Mailand entstandene Sinfonie in F-Dur KV 112 von W. A. Mozart lässt sich über das sechsteilige Expositionsmodell verstehen: einen Hauptsatz in Form eines antithetischen Eröffnungstypus folgt eine Überleitung im Forte, der sich ein erster Seitensatz anschließt. Der Seitensatz ist wie der Hauptsatz durch eine Wechsel (hier zwischen Bläsern und Streichern) charakterisiert, dem Seitensatz schließt sich eine erste Schlussgruppe an, die mit zwei Anläufen den Ganzschluss der Nebentonart herbeiführt. Das Schlussgruppenthema ist durch eine Piano-Streicherfarbe gekennzeichnet.
Quelle: YouTube.
Hörbeispiel 69: Die Exposition der ersten Sinfonie in c-Moll Op. 11 Felix Mendelssohn beginnt dramatisch im Forte, dem ersten lauten Forteabschnitt schließt sich ein längerer Seitensatzbereich, dessen Anfang sich über den anthitetischen Eröffnungstypus verstehen lässt und der von verschiedenen Gedanken geprägt ist. Eine Schlussgruppe im Forte beendet die Exposition. Aus der Perspektive des dynamischen Verlaufs entspricht diese Expsoition weder dem vierteiligen noch dem sechsteiligen Modell. Ein Unterscheidung der Formfuntkionen Hauptsatz und Überleitung gelingt erst dann, wenn erkannt wird, dass das Wiederaufgreifen des Hauptsatzes nicht zu einer periodischen Hauptsatzgestaltung führt, sondern dass dieser den Beginn einer zur Seitensatztonart führenden Überleitung bildet (ein Modell, dass auch die Exposition des Kopfsatzes der 5. Sinfonie Beethovens prägt, vgl. das nächste Beispiel).
Quelle: YouTube.
Hörbeispiel 70: Die Exposition der 5. Sinfonie in c-Moll von Ludwig v. Beethoven lässt sich gut über das vierteilige Expositionsmodell verstehen, wenn die erste große Halbschlusszäsur als Ende des Hauptsatzes und die Wiederkehr des markanten Anfangsmotivs als Beginn einer leisen, sich zum Lauten hin steigernden Überleitung verstanden wird.
Quelle: YouTube.
Starten Sie zum Hören des Strukturzugs 5−1 in c-Moll und 5−1 in Es-Dur den Audioplayer nach dem zweimal erklingendem, viertönigen Forte-Motiven auf der ersten Zählzeit des ersten Taktes im Piano. Zur Didaktik einer Höranalyse über den Tonleiter-Strukturzug können Sie hier (Aufsatz) und hier (Video) mehr erfahren.
Probleme
Die Exposition der 1773 in Salzburg entstandenen Sinfonie in C-Dur KV 200 beginnt mit einem Hauptsatz im Sinne des antithetischen Eröffnungstypus. Ihm folgt eine Überleitung im Forte sowie ein längerer (periodischer) Seitensatz im Piano. Der dynamische Piano-Einschub in der Schlussgruppe könnte auf ein ritardierendes Moment in der Schlussgruppe oder auf ein kurzes Schlussgruppenthema hindeuten:
Quelle: YouTube.
Die Entscheidung zwischen Piano-Einschub und Schlussgruppenthema lässt sich musikalisch recht einfach treffen: Direkt vor dem Pianoeinschub erklingt im Forte in den ersten Violinen eine Melodie (beim Berühren der Abbildung = grün), die in ein ausdrucksvolles Zusammenfallen des Satzes mündet (T. 55−56). Nach einer Pause, die keine trennende, sondern eine spannungsvoll-verbindende Funktion hat, hebt die Melodie in tiefer Lage und im Piano wieder an und wird dieses Mal mit einer Kadenz abgeschlossen. Motivik und Harmonik (Quintfallharmonik) sind dabei verbindende Momente, die stärker wiegen als das trennende Moment des durch die Dynamik bewirkten Kontrastes.
Quelle: YouTube.
Schwieriger zu entscheiden ist die Bestimmung der Länge des Hauptsatzes. Im Vergleich mit anderen Werken spricht der antithetische Eröffnungstypus dafür, mit dem Erreichen des ersten ausgiebigen Forte-Abschnitts den Beginn der Überleitung anzusetzen. Doch beim Übergang vom 7. zum 8. Takt im Forte-Tutti erklingt ein deutlich formulierter Ganzschluss in der Ausgangstonart, der in der Theorie von Heinrich Christoph Koch formbildende Funktion hat und in vielen anderen Werken wiederum Indiz für das Ende des Hauptsatzes ist.
Quelle: YouTube.
Die Bestimmung des Hauptsatzes ist in diesem Fall kontingent, dass heißt eine Interpretation, die so und auch anders möglich (und dennoch nicht beliebig) ist. Gleichzeitig gibt eine solche Bestimmung die ästhetische Position des Analysierenden preis: Nimmt man als Ende des Hauptsatzes den T. 12 an (mit Takterstickung), orientiert man sich primär an der Eröffnungsgeste zahlreicher Sinfonien. Bestimmt man das Ende des Hauptsatzes hingegen in T. 19/20, dann orientiert man sich primär an der Formfunktion spezifischer Kadenzen, die syntaktisch einen ersten Hauptperioden (Exposition) in Absätze gliedern. Da es keine Theorie musikalischer Gesten für die sinfonische Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts gibt, bewegt man sich fachwissenschaftlich auf sichererem Terrain, wenn man der Kadenzgliederung bei der Bestimmung von Formfunktionen den Vorzug gibt.
Zur Didaktik
Die hier dargelegte Vorgehensweise wurde schon häufig, an verschiedenen Schultypen und in unterschiedlichen Jahrgangsstufen praktisch erprobt. Katharina Sieg und Linda Wilkening haben die Herangehensweise getestet, ihre Erfahrungen publizierten und kamen zu einem insgesamt sehr positiven Fazit:
Das Lautstärkemodell bietet viele Vorteile im Unterricht gerade in Bezug auf die unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen der Schüler [...]
Darüber hinaus werden durch das häufige und intensive Hören die Hörfähigkeit und die Konzentrationsfähigkeit erweitert und geschult. Diese didaktischen Vorteile zeigten sich auch bei der Durchführung der Unterrichtssequenz in unterschiedlichen Klassen. Die Reflexion der Schüler offenbarte, dass Lautstärkediagramme den Themenkomplex aufwerten und verständlich visualisieren. Ein sehr schwieriger und komplexer Unterrichtsgegenstand wie die Sonatenhauptsatzform wird so vereinfacht dargestellt, dass alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, ihn zu verstehen [...]
Diese Methode bietet uns als Lehrern also die Chance alle Schülerinnen und Schüler für die Thematik ›Form‹ zu sensibilisieren [...] Wir haben die beschriebenen positiven Erfahrungen gemacht und möchten alle ermutigen, sich einmal nur auf einen Aspekt der Musik zu beschränken.
Sieg/Wikening 2014, S. 8.
Und in einer Rezension zu dem OpenBook »Sonate und Sinfonie« schreibt Julienne Eisenberg:
Der Unterrichtspraktiker, der sich auf Kaisers Konzept einlässt, muss möglicherweise seine Vorstellung vom Themendualismus in der Sonatenform, die doch so gut abprüfbar erschien, über Bord werfen. Die Belohnung aber besteht darin, im Unterricht alle Schülerinnen und Schüler mitzunehmen anstatt nur mit den wenigen Instrumentalschülern zu arbeiten und über die Köpfe der anderen hinweg zu unterrichten.
Eisenberg 2014, S. 50.
Es ist unstrittig, dass Schülerinnen und Schüler, die im Hören von klassischer Musik ungeübt sind, eine Sinfonie z.B. von Mozart ganz anders wahrnehmen als Personen, denen diese Musik vertraut ist. Denn während die Aufmerksamkeit beim ungeübten Hören von eher allgemein-assoziativen Eindrücken geleitet wird, stehen erfahrenen Hörerinnen und Hörern eine Vielzahl kognitiver Schemata zur Verfügung, die eine gerichtete Aufmerksamkeit bewirken. Der Parameter Lautstärke bietet die Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu fokussieren, in eine Höranalyse ohne Voraussetzungen einzusteigen und den Unterricht vom Notenlesen zu entlasten. Die kurze Dauer von Expositionen (ca. 1–1,5 Minuten) ist darüber hinaus geeignet, mit wenig Zeit mehrere Werke zu thematisieren, kognitive Schemata zum Hören sinfonischer Musik auszuprägen und über Vergleiche ein Stilempfinden für Musik um 1800 zu entwickeln. Beim Erarbeiten von Expositionen verschiedener Sinfonien ist ein Wechsel der Methoden empfehlenswert:
-
Erste Methode: Aufstehen und Setzen
Die Bewegungszustände ›Sitzen‹ und ›Stehen‹ lassen sich in jedem Unterrichtsraum ohne Aufwand realisieren. Mit kleineren Kindern kann man eine Visualisierung à la Häschen in der Grube darstellen: die Kinder hocken im Kreis, richten sich mit dem Lauterwerden der Musik auf und gehen mit dem Leiserwerden wieder in die Hocke.
-
Zweite Methode: Stehen und Bewegen
Ein weiteres Mittel, um eine körperliche Bewegung in den Unterricht zu integrieren, ist das Stehen bei leiser Musik und das langsame Gehen bei lauter Musik. Auch in diesem Fall entsteht eine sinnfällige Visualisierung des Parameters Lautstärke.
-
Dritte Methode: Lautstärkevisualisierung mit farbigen Tüchern
Es werden farbige Servietten ausgelegt, die eine Lautstärkeanzeige symbolisieren (z.B. in einem Soundbearbeitungsprogramm). Schülerinnen und Schüler stehen auf der Grundlinie (Kreise unten), die Laufwege sind durch Pfeile eingezeichnet (nichts zu hören = stehen auf der Grundlinie, leise Musik = ein Schritt nach rechts vor, mittlere Lautstärke = ein Schritt nach links vor und laute Musik = ein Schritt nach rechts vor, Sprünge sind möglich). Das Treten auf die Servietten ist natürlich verboten (und wird trotzdem passieren). Eine zweite Gruppe kann die Bewegung beobachten und anschließend reflektieren. Bei einem zweiten Hörbeispiel wechseln die Gruppen. Diese etwas aufwendigere Methode erzielt sehr ansprechende Ergebnisse, weil kleinste Veränderungen der Dynamik meist sehr sensibel dargestellt werden und kleinere Unterschiede in der Lautstärkeauffassung von verschiedener Personen nicht immer angeglichen werden, was auch das Beobachten zu einer interessanten Aufgabe macht.
-
Vierte Methode: Lautstärkediagramme zeichnen
Ohne Übung werden in der Praxis dabei die Lautstärkediagramme meistens zu groß gezeichnet, was Zeilenumbrüche nötig macht und anschließende Vergleiche erschwert. Hilfreich ist dabei die Vorstellung einer Zeitleiste von 1,5 Minuten für ein Din-A-4-Blatt (Hoch- oder Querformat), die platzsparendes Zeichen bewirken kann. Ein abschließender Vergleich der erstellten Zeichnungen mit einem originalen Lautstärkediagramm, das sich schnell über die Software WellenWriter herstellen lässt, ermöglicht eine Bewertung der Ergebnisse.
Zum anderen ermöglichen Lautstärkemodelle im Musikunterricht eine ganz andere Form musiktheoretischen Arbeitens. Denn das Lautstärkemodell muss ja im Unterricht nicht immer auf sokratische Weise finden lassen ("Zeichne ein Lautstärkediagramm..."), sondern es könnte auch zur Validierung vorgegeben werden ("Überprüfe, ob der Lautstärkeverlauf p-f-p-f die Exposition der Sinfonie xy zutreffend beschreibt"). Im diesem Fall käme Schülerinnen und Schülern die Aufgabe zu, ein musiktheoretisches Modell auf seine Tauglichkeit hin zu überprüfen bzw. zu verifizieren oder falsifizieren. Damit können einerseits dynamische Verläufe im Unterricht thematisiert werden, die den vorgegebenen Modellen nicht entsprechen (was den Radius der im Unterricht behandelbaren Musik vergrößert), andererseits wäre der Einstieg in eine Form musiktheoretischen Arbeitens möglich, der sogar eine wissenschaftspropädeutische Funktionen erfüllt.
Schwierig fanden die Schüler den Umgang mit dynamisch sehr komplex gestalteten Sinfonien, da hier die Lautstärke oftmals auch mit der Verwendung bestimmter Instrumentengruppen einhergeht. Außerdem erkannten unsere Schülergruppen hier Grenzen des Modells in Bezug auf Übergänge zwischen Formteilen, die so verschleiert waren, dass Dynamik als einziger Parameter nicht ausreichte.
Sieg/Wikening 2014, S. 8.
In der Beschreibung der Unterrichtsversuche von Katharina Sieg und Linda Wilkening klingt zudem an, dass Schülerinnen und Schüler durchaus die Grenzen der Methode ›Lautstärkediagramme‹ refklektieren konnten. Ein solches Bewusstsein wiederum könnte die Möglichkeit eröffnen, alternative Methoden der Analyse einzuführen (z.B. die Kadenzlehre Heinrich Christoph Kochs) oder in eine hermeneutisch Betrachtunsgweise münden, die in der Abweichung vom Modell die Eigenart individueller Expositionsgestaltungen zu würdigen in der Lage ist.
Jenseits dieser Überlegungen ist der Parameter Lautstärke in der hier vorgestellten Art theoriegeschichtlich anschlussfähig und bietet methodisch weitaus mehr Möglichkeiten als ein kulturgeschichtlicher Ansatz, bei dem philosophische Ideengeschichte (Hegels These, Antithese und Synthese), Theoriegeschichte (A. B. Marx: "Haupt- und Seitensatz sind zwei Gegensätze zu einander, die in einem umfassenden Ganzen zu einer höheren Einheit sich vereinen.") und Kompositionsgeschichte (z.B. Kompositionen Beethovens) aufeinander bezogen werden. Dieser Ansatz verkommt insbesondere dann zur Lächerlichkeit, wenn eine passende Musik dazu aus Schwierigkeitsgründen verworfen und leichter lesbare, jedoch unangemessene Kompositionen (z.B. die Sonaten Mozarts) zur Exemplifizierung gewählt werden. Die Unzulänglichkeit dieser Herangehensweise wird dabei in der Musikwissenschaft schon länger kritisiert:
Daß in Sonaten das erste Thema männlich und das zweite weiblich zu sein pflegt, lässt sich aus diesem Grunde als drollige Idee abtun. Die Fachwörter erstes und zweites Thema sind schon jammervoll genug, auch wenn sie sich mittlerweile so eingenistet haben, daß sie schwer zu vertreiben sind [...]
Problematisch ist an dieser leider noch heute an den meisten Schulen und in Musikkursen gelehrten Darstellung der Sonatenform nicht so sehr, daß sie nicht genau zutrifft, sondern, daß sie als Rezept formuliert ist [...] Man gibt zwar zu, daß zahlreiche Sonaten abweichende Merkmale aufweisen, doch macht man Komponistenwillkür dafür verantwortlich und läßt durchblicken, daß Sonaten eigentlich auf die »rechte« Weise zu komponieren seien. [...] Das Gefährlichste an der traditionellen Sonatentheorie ist ihr normativer Anspruch.
Rosen 1995, S. 88 und S. 31 f.
Weitere Hörbeispiele
zum Openbook Formenlehre der Musik:
- Formenlehre I - Wiederholung, Variante, Kontrast
- Formenlehre II - Form durch Kadenzen
- Formenlehre III - Beispiele für Formen und Gattungen
- Formenlehre IV - Periode und Satz
- Formenlehre V - Lautstärkemodelle zur Sinfonie
- Formenlehre VI - Beispiele der Pop- und Rockmusik
Links
- Ulrich Kaiser, Sonate und Sinfonie. Ein altes Thema auf neuen Wegen, Unterrichtsheft, Kommentarheft und Medien, 2. überarb. Aufl. Karlsfeld 2012.
- Ulrich Kaiser Fomenlehre der Musik, Karlsfeld 2019
Literatur
- Johann Friedrich Daube, Anleitung zur Erfindung der Melodie und ihrer Fortsetzung, Erster Theil, Wien 1798
- Julienne Eisenberg. Ulrich Kaiser. Sonate und Sinfonie. Ein altes Thema auf neuen Wegen. Unterrichtsheft, Kommentarheft und Medien (inkl. Software WavePen von Andreas Helmberger), 2. überarbeitete Aufl., Karlsfeld 2012, Download: http://www.musik-openbooks.de/SonateUndSinfonie, in: Musik. Themen • Unterrichtsideen • Materialien 5–10, ›Form‹, 2/2014, S. 50.
- Joseph Riepel, Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst, Erstes Capitel: De Rhythmopoeia oder von der Tactordnung, Regensburg und Wien 1752
- Charles Rosen, Der klassische Stil, Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel 21995.
- Katharina Sieg und Linda Wilkening, »Der Sonatenform auf der Spur. Lautstärkediagramme zum Formverständnis«, in: Musik. Themen • Unterrichtsideen • Materialien 5–10, ›Form‹, 2/2014, S. 6−8.
Erstellung des Beitrags: 14. Februar 2019
Letzte Änderung des Beitrags am 28. Februar 2019