Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter dem Titel Anleitung Kontrapunkt 16. Jh. - Formale Gestaltung einer Vorlage mit Rhythmus auf der Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Kontrapunkt 7 (16. Jahrhundert) - Zur formalen Gestaltung

von Ulrich Kaiser



Vorgabe und Vorüberlegung I: Modus

Im Tutorial Mehrstimmiger Kontrapunkt im 16. Jahrhundert ging es um die Ausarbeitung einer kontrapunktischen Vorlage in einer Stilistik des 16. Jahrhunderts unter Berücksichtigung von Imitationen sowie einer (in Bezug auf den Modus sinnvollen) Kadenzdisposition. Als Vorlage für diese Aufgabe dient eine Aufgabenstellung, die im Rahmen einer ersten Staatsprüfung (Hochschule für Musik und Theater München, Lehramt am Gymnasium, Pflichtfach Musiktheorie) in der Vergangenheit einmal gestellt worden ist:

Die Aufgabe bestand seinerzeit darin, unter Verwendung der oben abgebildeten Vorgabe sowie des Textes »Kyrie eleison« einen kompletten kontrapunktisch vierstimmigen Satz auszuarbeiten. Die Vorgabe darf hierzu transponiert, unterteilt und auf verschiedene Stimmen verteilt werden, kurz: In der Ausarbeitung ist man recht frei bis auf die Tatsache, dass alle Töne der Vorgabe in der Ausarbeitung in irgend einer Weise sinnvoll vorkommen sollten.
Eine sinnvolle Vorüberlegung besteht darin, einen Modus bzw. eine Tonart zu bestimmen, in dem sich die Vorgabe sinnvoll ausarbeiten lässt. Die Vorgabe oben endet mit einer phrygischen Klausel und beginnt mit e, so dass sich eine Ausarbeitung im phrygischen Modus anbietet. Gut zu wissen ist es zudem, dass in phrygischen Kompositionen in e nicht selten an formal entscheidenden Punkten wie z.B. Anfang und Schluss a-Moll-Klänge zu hören sind.

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Vorüberlegungen II: Imitationen

Während der Anfang aufgrund der Intervallstruktur und der ungleichen Rhythmuswerte sich nicht gerade für eine Imitation anbietet, sind im 5./6. sowie 13./14. Takt der Vorlage sehr gut Imitationen möglich. Für die stufenweise Abwärtsbewegung und Tonwiederholung sind Imitationen in der Untersexte sowie Oberquinte geeignet. Beide Imitationen betten die melodischen Sekundbewegungen abwärts harmonisch in eine 6-5- bzw. 5-6-Seitenbewegung ein:

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Vorüberlegung III: Kadenzen und Kadenzdisposition

Ein wichtiges Moment, eine Tonart im 16. Jahrhundert auszudrücken, lag in der Disposition der Kadenzen. Bernhard Meier (1994, S. 181) gibt für die acht Modi die folgenden Kadenzorte an:

Tonart Kadenzen 1. Ranges Kadenzen 2. Ranges Kadenzen 3. Ranges
1. Modus d, d' a f
2. Modus d A und f a
3. Modus e, e' a, selten c g
4. Modus e a g, c
5. Modus f, f' c' a
6. Modus f c und a c'
7. Modus g, g' d' c'
8. Modus g c' und d d'

Übertragen auf eine Stilübung besteht die Aufgabe darin, primär Kadenzen auf e, a und c zu verwenden, Kadenzen auf g sind möglich, sollten jedoch nur eine untergeordnete Bedeutung haben.

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Ausarbeitung einzelner Abschnitte

Der Anfang

Wie bereits erwähnt, lässt der Anfang der Vorgabe eine Imitation kaum zu. Einfacher ist es, den Beginn der Vorgabe als homophonen Satz zu gestalten. Unter der Voraussetzung, dass jeder Ton der Vorgabe Grundton, Terzton oder Quintton sein kann, könnte ein erster Arbeitsschritt darin bestehen, sich mögliche Harmonien für den Anfang zu überlegen:

Für dieses Tutorial wurde aus den oben angegebenen möglichen Harmonien die folgende Auswahl getroffen:

Für die Auswahl wird beachtet, dass

  • Verbindungen mit terzweise fallendem Grundton (z.B. a-Moll -> F-Dur -> d-Moll) schnell nach Musik späterer Zeiten klingen können, während der Grundtonbewegung terzweise aufwärts (z.B. d-Moll -> F-Dur) für ältere Musik (und übrigens auch für Popmusik) typisch sind,
  • mehrere grundstellige Klänge sekundweise in einer Richtung steigend oder fallend sich ohne fehlerhafte Parallelbewegungen in der Vierstimmigkeit kaum realisieren lassen,
  • Töne, die länger als eine ganze Note sind, harmonisch eine klangliche Abwechslung benötigen und
  • dass Harmoniewechsel beim Taktübergang – anders beispielsweise als in Musik des 18. Jahrhunderts – nicht vermieden werden müssen.

Achtet man darüber hinaus auf grundstellige Akkorde, ist der folgende Anfang denkbar:

Die Musteraussetzung zeigt am Anfang eine klangliche Abwechslung durch den vorgezogenen Einsatz des Soprans, bei der punktierten ganzen Note in T. 3 wurde diese durch den harmonischen Wechsel C-G-C realisiert, bei dem das g einen Liegeton bildet (durch die Punktierung im Tenor wirkt der C-G-C-Wechsel sogar wie eine kleine Binnenkadenz auf c). Auch die Harmoniefolge C-e-G wäre an dieser Stelle gut möglich gewesen, jedoch hätte der G-Dur-Klang am Ende die dominantische Wirkung der folgenden C-Kadenz vorweggenommen. Insgesamt sind nur grundstellige Akkorde gewählt worden, lediglich der Sextakkord am Ende verdankt sich dem Bemühen, unmittelbar vor der Kadenz eine G-Dur-Klang zu vermeiden. Ein eigenständiger h-Moll-Klang ist übrigens im 16. Jahrhundert aufgrund des benötigten fis nicht denkbar.

Die erste Kadenz

Der erste Melodieabschluss der Vorgabe und der Kadenzplan Pontios legen in T. 5 eine c-Kadenz nahe. Dabei ergibt sich allerdings das folgende Problem:

  • Es wäre fehlerhaft, eine reguläre Sopranklausel gegen die Tenorklausel zu schreiben (a), da eine konsonante Vorbereitung nicht möglich ist (die Vorbereitungsnote c'' ist nicht konsonant, sondern bildet eine dissonante Septime zum d' der Unterstimme).
  • Modellhaft hat im 16. Jahrhundert die Vorbereitung einer Dissonanz die gleiche Länge wie die nachfolgende Dissonanz. Wenn die Vorbereitungen nur halb so lang ist wie die regulär nachfolgende Dissonanz, kann man in solchen Fällen die Auflösung verzieren (b), wodurch Vorbereitung und real erklingende Dissonanz gleich lang erklingen.
  • Verzichtet man wegen der genannten Schwierigkeiten auf eine Synkopendissonanz, lässt sich eine Kadenzwirkung auch durch eine 5-6-8-Bewegung erzeugen (c). Diese Kadenz gilt allerdings aufgrund der fehlenden Synkopendissonanz nur als ›schwache‹ Kadenz.

In dem folgenden Beispiel wurde für den Abschluss des ersten Abschnitts die Möglichkeit c) mit der 5-6-8-Intervallfolge verwendet. Hierzu wurden die Töne d-c (punktierte Halbe und Viertel) der Vorlage in den Alt gesetzt, und die sich anschließende Tenorklausel d-c (ganz und halbe Note) in den Bass gelegt. In der vierstimmigen Ausarbeitung entsteht durch diese Disposition eine schwache Kadenz auf c (wegen der Tenorklausel im Bass und der fehlenden Synkopendissonanz).

Um einen starken Abschluss zu erreichen, ist anschließend eine weitere Kadenz ergänzt worden (beim Ziehen des Sliders grüne vierstimmige Aussetzung mit Sopranklausel im Tenor und Tenorkalusel im Alt). Diese Kadenz ergab sich nicht aus der Vorlage, sondern wurde frei ergänzt, um die erste formbildende Kadenz der Stilübung nach dem Kadenzplan Pontios (c = »quasi prinicipalis«) als starke Kadenz ausarbeiten zu können.

Der zweite Abschnitt als Imitation

Der zweite Abschnitt der Vorlage lässt sich gut als Imitation ausarbeiten. Die folgende Abbildung zeigt die zweistimmige Imitation der Vorüberlegungen, beim Berühren der Abbildung wird eine mögliche vierstimmige Ausarbeitung sichtbar.

Grundlage der vierstimmigen Aussetzung war der Dezimen-Außenstimmensatz, der an anderer Stelle bereits eingehend erörtert worden ist. Allerdings wurde der Dezimen-Satz an dieser Stelle auf unterschiedliche Stimmen verteilt: Er beginnt zwischen Sopran und Tenor (in der Abbildung oben am Ende des zweiten Taktes), der Bass setzt im vierten Takt des Beispiels ein und übernimmt die Dezimen zum Sopran.

Die zweite Kadenz

Auch am Endes dieses Abschnitts wird noch eine vierstimmige Kaenz (grün) ergänzt.

Diese abschließende Kadenz ist eine Kombination aus einer Tenorkadenz auf g (»per transitu«), die mit einer Kadenz auf c verwoben wird. Aufgrund des Quartsextklangs ist die c-Kadenz aus kontrapunktischer Sicht eine Besonderheit, die sich jedoch nicht selten in den Motetten Palestrinas findet (Achtung: die Stimmführung in Kadenzen, die − aus moderner Sicht − einen Vorhaltsquartsextakkord enthalten, sollte immer an einem Vorbild wie z.B. Palestrina orientiert werden. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass solche Kadenzen schnell nach Musik des 17. oder 18. Jahrhunderts klingen).

Transponierte Vorlage als Weiterführung

Der zweite Abschnitt wird mit einer homophon-vierstimmigen Ausarbeitung beendet, in der die Vorlage um einen Ton nach unten transponiert noch einmal in der Oberstimme zu hören ist. Für die ersten drei halben Noten wurde dabei eine Harmonisierung gewählt, die auf grundstelligen Dreiklängen basiert (die Vorgehensweise dabei entspricht der, die in Verbindung mit dem ersten Abschnitt besprochen worden ist), den Abschluss bildet eine cadenza doppia auf den Ton c (»quais principale«).

Klanglicher Kontrast

Damit keine ungewollte Unterbrechung der Musik eintritt, wurde das Ende der Kadenz im Sinne eines fuggir la cadenza abgeändert. Im Alt wurde die Schlussnote hierfür durch eine Pause ersetzt, der so verzögerte Neueinsatz verbindet die alte mit der neuen Passage. Als nächster Abschnitt wurde nach der starken cadenza doppia ein dreistimmiger Abschnitt gewählt, wobei der fehlende Bass einen klanglichen Kontrast zum Vorhergehenden bietet. Der Farbgestaltung im nächsten Beispiel lässt sich die Vorgehensweise für diesen Abschnitt erkennen:

  1. Zweistimmiger Satz mit einfacher Seitenbewegung (6-5 und 3-8 = grün),
  2. Tenor über Dezimensatz (= rot) und
  3. Tenorkadenz »per transitu« (ohne Synkopendissonanz) als Abschluss (= blau)

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Freie Gestaltungen

Für den nächsten Abschnitt gibt es in der Vorgabe keine Entsprechung. Er wurde eingefügt und frei gestaltet, um einerseits einen mehrstimmig polyphonen Abschnitt auszuarbeiten, andererseits eine *Cadenza doppia* in a (»principale«) zu platzieren. Das nächste Beispiel zeigt die fertige Ausarbeitung dieses Abschnitts, der wieder über den Alt per Kadenzflucht (*Fuggir la cadenza*) verbunden worden ist (beim Berühren der Abbildung wird die Kadenz in a grün eingefärbt).

Das Gestalten freier polyphoner Abschnitt ist dabei keine Kunst, sondern ein Technik, die früher zum Handwerk eines jeden Komponisten gehörte (es verwundert daher wenig, dass für aufwendige und vielstimmige Imitationen im 16. und frühen 17. Jahrhundert bestimmte, gut funktionierende Modelle immer wieder verwendet worden sind). Für den Imitationsabschnitt oben wurde ein Modell verwendet, dass sich sogar für einen vierstimmigen Kanon eignet (die Farben der Stimmen werden beim Ziehen des Silders in der Abbildung unten sichtbar). Das Potential dieses Modells wurde im Beispiel nicht ausgeschöpft, sondern mit der Technik des Dezimen-Außenstimmensatzes kombiniert. Die folgende Abbildung zeigt die mechanische (diatonische) Funktionsweise, in der verminderte Klänge und übermäßige Intervallsprünge vernachlässigt werden:

Der vorletzte Abschnitt der Vorgabe ist insofern problematisch, als er prinzipiell wie eine Sopranklausel einer a-Kadenz aussieht, die rhythmische Gestaltung jedoch für eine einfach Kadenz oder eine cadenza doppia ungeeignet ist. Aus diesem Grund wird in der folgenden Ausarbeitung eine Kadenz nach a nur angedeutet (mit der korrespondierenden Tenorklausel im Bass):

Die Dehnung der Sopranklausel wird anschließend für ein *fuggir la cadenza* genutzt und an diese geflohenen Kadenz dann jenseits der Vorgabe eine *cadenza doppia* auf a (= grün= angehängt:

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Der Schluss

In den ersten Takten des folgenden Beispiels ist zu sehen, dass die Vorgabe aufgrund der tiefen Lage in den Alt gelegt worden ist. Zu ihr bildet der Sopran mit einer 6-5-Seitenbewegung einen einfachen und regulären Kontrapunkt.

Unter dem langen Schlusston des Altes ließ sich die Imitation weiterführen, anschließend wurde eine cadenza doppia ergänzt. Diese Kadenz beginnt mit einer klanglichen Attraktion, einem übermäßigen Klang e-g#-c, der als madrigaleske Figur im frühen 17. Jahrhundert sehr beliebt war.

Dieser gewichtigen Kadenz schließt sich eine weitere zweistimmige phrygische Kadenz auf e an (Tenorklausel im Sopran, Sopranklausel im Alt), um den phrygischen Modus zu verdeutlichen. Denn eine e-Kadenz ist bisher noch nicht erklungen, obgleich Sie in den phrygischen Modi zu den Kadenzen »principalis« zählt. In der vierstimmigen Ausarbeitung der phrygischen Kadenz − vorausgesetzt, die Tenorklausel erklingt nicht im Bass − entsteht allerdings wieder ein finaler a-Klang mit picardischer Terz (dennoch zeigt diese Kadenz mit Schlusston a im Bass eine phrygische Kadenz auf e).

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Das Ergebnis

Im Folgenden findest du das Ergebnis der oben beschriebenen Arbeitsschritte. Beim Berühren der Abbildungen wird die ursprünglich Vorgabe farbig markiert:

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Vorgehensweise bei einer nicht-rhythmisierten Vorgabe

Das folgende Video zeigt die Vorgehensweise bei einer nicht-rhythmisierten Vorgabe. Die in dem Video gegebene Kadenzordnung ist dabei eine pragmatische Schnittmenge verschiedener Quellen (Aaron, Dressler und Pontius), eignet sich gut als Merkhilfe für die Kadenzdisposition in einer Stilübung und unterscheidet sich geringfügig von der oben gegebenen Übersicht.

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Materialien


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