Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter dem Titel Mehrstimmiger Kontrapunkt auf der Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Kontrapunkt 4 (16. Jahrhundert) - Zum mehrstimmigen Kontrapunkt

von Ulrich Kaiser

In diesem Tutorial lernen Sie, wie Sie aus einem zweistimmigen Kontrapunkt in einem Stile des 16. Jahrhunderts zuerst einen drei- und dann einen vierstimmigen Kontrapunkt erstellen können.

Die Ausgangslage: ein zweistimmiger Kontrapunkt

In dem Tutorial Zum zweistimmigen Kontrapunkt (16. Jahrhundert) wurde die Erstellung eines zweistimmigen Kontrapunkts besprochen. Das folgende Beispiel zeigt ein Ergebnis dieser Anleitung::

Dreistimmigkeit

Die einfachste Art der Dreistimmigkeit entsteht, wenn man zu einem zweistimmigen Kontrapunkt eine Bassstimme improvisiert, der Oberstimme (bzw. zur obersten Stimme im Falle einer Stimmkreuzung) in Dezimen verläuft. Da die Bassstimme in der Kadenz festen Regeln folgt, kann dieser Bereich vorerst freigelassen werden. Wenn Sie die nächste Abbildung berühren, wird der Dezimensatz und die Vorgehensweise ersichtlich:

Wenn Sie auf diese Weise aus einem zweistimmigen einen dreistimmigen Satz herstellen, ergeben sich einerseits quasi automatisch für das 16. Jahrhundert authentisch wirkende Klangverbindungen, andererseits auch satztechnische Probleme. Achten Sie deshalb als nächstes auf die Stellen, an denen im zweistimmigen Satz die Zahlen eingefärbt waren:

Folgende Stellen sind für eine Klangtechnik des 16. Jahrhunderts problematisch:

  1. Dort, wo im zweistimmigen Satz parallele Sexten erklingen, entstehen im dreistimmigen Satz Quintparallelen zwischen der Mittelstimme und der Unterstimme.
  2. Dort, wo im zweistimmigen Satz parallele Terzen erklingen, entstehen im dreistimmigen Satz Oktavparallelen.
  3. Wird das Quint- oder Oktavintervall im zweistimmigen Satz wiederholt, ergeben sich auch in der Dreistimmigkeit Klangwiederholungen.
  4. Mit den nicht chromatisierten Tönen einer Komposition des 16. Jahrhunderts können eine verminderte Quinte und eine übermäßige Quarte entstehen. Dieses Problem lässt sich in der Regel über eine b-Vorzeichenanwendung beheben.

Für die satztechnischen Probleme der Quint- und Oktavparallelen lässt sich verallgemeinern, dass diese immer genau dann auftreten, wenn im zweistimmigen Kontrapunkt Terz- oder Sextparallelen erklingen. Diese Beobachtung ermöglicht es, beim Korrigieren dieser verbotenen Parallelbewegungen nach Regeln vorzugehen:

Regel: Sextparallelen im zweistimmigen Kontrapunkt Regel: Terzparallelen im zweistimmigen Kontrapunkt
Problem: Quintparallenen Problem: Oktavparallelen
Außenstimmen 10-10 ersetzen durch 10-8 Außenstimmen 10-10 ersetzen durch 10-12 (Oktave + Quinte)
Ergebnis: Parallelismus mit Grundakkorden Ergebnis: Parallelismus mit Grundakkorden

In der nächsten Abbildung sehen Sie, wie die Oktav- und Quintparallelen durch Anwendung der beiden Regeln oben vermieden werden können. Der verminderte Klang lässt sich durch eine b-Vorzeichnung vor dem Ton es verhindern. Am Ende des Beispiels wurde zudem eine charakteristische Bassstimme für die phrygische Kadenz ergänzt:

Wenn Sie die verborgenen Noten durch Berühren der Abbildung aufdecken, sehen Sie eine Änderung, mit der sich der große Stimmenumfang einer Duodezime im vorletzten Takt vermeiden lässt. Vergleichen Sie mit der folgenden Audiodatei die beiden Lösungen und beschreiben Sie die unterschiedlichen Wirkungen.

Der Ambitus einer Duodezime ist aus theoriegeschichtlicher Sicht problematisch, aus kompositionsgeschichtlicher Sicht in der Mehrstimmigkeit eher unproblematisch. Die Alternative dürfte jedoch für die meisten Ohren heute vertrauter klingen, weil sich beim Taktübergang eine Harmonik ergibt, die sich als II-V-I-Kadenz interpretieren lässt (g-Moll / C-Dur / F-Dur).

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Vierstimmigkeit

Ziel der nächsten Arbeitsschritte ist es, den bisher erarbeiteten dreistimmigen Satz zur Vierstimmigkeit zu erweitern. Hierzu wurde im nächsten Notenbeispiel zur Vorbereitung ein leeres Notensystem unter der Mittelstimme eingefügt. Die Mittelstimme wird dadurch zum Alt, das leere System ist für den Tenor:

Nun können Sie die Stellen, die für die Altstimme recht tief liegen, in die Tenorstimme kopieren. Den Alt lassen Sie an diesen Stellen vorerst pausieren. Wenn Sie das verborgene Notenbild aufdecken, können Sie diese Technik an zwei Stellen beobachten. Achten Sie darauf, dass sich der Klang des Satzes kaum verändert hat bzw. dass er z.B. an einem Klavier noch genau so wie vor der Stimmenaufteilung klingt.

Im letzten Schritt müssen Sie nun die Leerstellen im Alt und Tenor auffüllen, wobei vollständige, vierstimmige Klänge in enger Lage sehr gut klingen. Beachten müssen Sie dabei lediglich, dass durch die Ergänzungen keine Oktav- oder Quintparallelen entstehen. Das folgende Beispiel zeigt ein mögliches Ergebnis:

Am Anfang der Ausarbeitung (beim Berühren der Abbildung rot markiert) erklingt eine Oktavparallele zwischen Tenor und Sopran, die sich nur schwer vermeiden lassen. Stimmkreuzungen sind in solchen klanglich engen Sätzen in der Regel unproblematisch und sogar typisch (= gelb markiert). Im vorletzten Takt wurde zudem eine kleine Änderung vorgenommen, damit nicht hintereinander dieselben Töne (f-e) im identischen Rhythmus (punktierte Halbe mit Viertel) zu hören sind (= grün markiert).

Das Problem der Oktavparallele am Anfang ist zwar schwer zu vermeiden, jedoch leicht zu umgehen. Zum Beispiel, indem man Pausen verwendet und den Tenor einfach später einsetzen lässt:

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Chiavetten und Tonart

Bis zu diesem Zeitpunkt haben Sie sich bei der Stilübung noch keine Gedanken über das komplexe Gebiet der Tonart bzw. des Modus machen müssen. Zum Thema Alte Tonarten wird hier vorausgesetzt, dass Sie die acht Tonarten des kirchlich-abendländische Systems kennen. Nach diesem System gibt es acht Tonartem, vier authentische und vier Plagale:

  1. Modus = Dorisch
  2. Modus = Hypodorisch
  3. Modus = Phrygisch
  4. Modus = Hypophrygisch
  5. Modus = Lydisch
  6. Modus = Hypolydisch
  7. Modus = Mixolydisch und
  8. Modus = Hypomixolydisch.

Das folgende Beispiel zeigt um 1600 gebräuchliche Kombinationen von Notenschlüsseln (Chiavetten) für diese Tonarten, mithilfe der z.B. G. P. Palestrina seine geistlichen Madrigale (1594) notiert hat:

Tonart Chiavetten Alternativen
Modi 1s, 3, 4 und 8
Modi 2 und 6
Modus 1
Modus 5
Modus 7
Modus 2s

Legende: s = selten

Ziel der verschiedenen Schlüsselungen war es, in den einzelnen Stimmen Hilfslinien zu vermeiden. Sie können daher die Korrektheit der Stimmumfänge der Ausarbeitung überprüfen, indem Sie diese versuchsweise in alten Schlüsseln notieren. Der 1. und 2. sowie der 5. und 6. Modus konnten nach der Tabelle oben mit b-Vorzeichnung notiert werden. Das Beispiel gibt die bisherige Ausarbeitung mit den Schlüsseln des 1. Modus (Finalis d) wirder:

Die Notation zeigt, dass alle Stimmen gut in den jeweiligen Systemen liegen und Hilfslinien nicht benötigt werden. Das folgende Beispiel zeigt eine für den 5. Modus (Finalis F) typische Schlüsselung und auch in diesem Fall ist die gute Lage der Stimmen in den jeweiligen Systemen auffällig:

Für die Verkettung von Abschnitten sowie eine weitere Ausarbeitung eines ganzen kontrapunktischen Satzes können Sie das Tutorial Kadenzorte und Tonart studieren.


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