Die Quarte
Die Quarte mit ihrer einfachen Proportion (4:3) zählt aus mathematischer Sicht wie die Quinte (3:2) und die Oktave (2:1) zu den vollkommenen Konsonanzen. Eine solche Auffassung spiegelt sich in frühen Formen mehrstimmiger Musik wie zum Beispiel dem (Quart)-Organum und den Fauxbourdon-Kompositionen des 15. Jahrhunderts. Im Rex celi, einem Quartorganum aus der Musica enchiriades, werden Anfang- und Schlussklänge − wie bereits erwähnt − durch die perfekten Konsonanzen Einklang und Oktave gebildet. Die nach bestimmten Regeln improvisierte vox organalis verlief dazwischen weitgehend in Quarten parallel:
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist eine Zusammenarbeit von englischen und französischen Musiker nachweisbar, zum Beispiel an der Kapelle des Herzogs von Bedfod unter unter der Leitung von Alain Kirketon (um 1420). Die englische Musik mit ihrer damaligen Besonderheit üppiger Terzen- und Sextenparallelbewegung (siehe hierzu der englische Faburden) hat wahrscheinlich die Entstehung eines Kompositionsstils maßgeblich beeinflusst, der heute unter dem Namen Fauxourdon bekannt geworden ist. Eines der frühesten überlieferten Fauxbourdonstücke ist das Regina caeli laetare des Johannes de Limburgia:
Ungewöhnlich für eine Fauxbourdonkomposition ist das gerade Zeitmaß des * Regina caeli. Von Prosdocimus de Beldemandis, einem Professor für Astronomie, der sich natürlich auch für die anderen drei Artes des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie und Musik) engagierte, wurde wahrscheinlich erstmalig das sogenannte Parallelenverbot für perfekte Konsonanzen ausdrücklich begründet (Contrapunctus 1412). Nach Prosdocimus verstieß das Gleiche singen wie ein anderer gegen die Verschiedenartigkeit der Stimmen und damit gegen das eigentliche Ziel des Kontrapunkts (denn zwei Stimmen im Quintabstand konnten zum Beispiel mit den gleichen Somisationsilben gesungen werden). Der Trick, das Parallelenverbot zu berücksichtigen und gleichzeitig Quartparallelen als Kunstfertigkeit zu legitimieren, bestand darin, diese als canon sine pausis (in der Unterquarte) zu begreifen und aus dem Stehgreif zu improvisieren. Durch eine geschickt geführte Unterstimme konnten sich dabei Terz-Sextklänge und Quint-Oktavklänge abwechseln und dem Gebot der Verschiedenartigkeit genüge geleistet werden. Herausragender Komponist und von Fauxbourdon-Kompositionen war in dieser Zeit Guillaume Du Fay (Guillaume Dufay). Das aus seiner Feder stammende Kyrie zeigt die Praxis, im Verlauf der Komposition die Zusammenklänge abzuwechseln (* = Terz-Sextklänge, + = Quint-Oktavklänge und ~ = Verzierungsdissonanzen wie abspringende Nebennote, Wechselnote und Durchgang):
In den oben besprochenen Kontexten ist die Quarte im physikalischen und im satztechnischen Sinne eine Konsonanz. Darüber hinaus tritt die Quarte als Quartvorhalt im Generalbass des 17. und 18. Jahrhunderts als dissonantes Intervall in Erscheinung:
Der unterschiedliche Gebrauch der Quarte lässt sich erklären, wenn man bedenkt, dass jedem Quartvorhalt im Ursprung eine Septimensynkope zugrunde liegt, das heißt, ein Quartvorhalt ist eine Septimensynkope mit einer unterlegten Bassstimme (contratenor bassus):
Der Quartvorhalt ist dabei nicht der einzige Vorhalt, der sich aus einer Septimensynkope ableiten lässt. In dem folgenden Beispiel findet sich über der zweiten Bassnote des ersten Taktes h ein Nonenvorhalt und über der dritten Bassnote des zweiten Taktes ein Quartvorhalt. Beide Dissonanzen sind aus einer Septimensynkope abgeleitet (d-c bzw. h-a):
Sowohl der Quart- als auch der Nonenvorhalt haben ihren Ursprung also in der Septimensynkope und waren ursprünglich Sekundärdissonanz zwischen einer Oberstimme und einer Stimme mit Bassfunktion:
Beim Hören lässt sich die doppelte Bedeutung der Quarte als tendenziell konsonantes Intervall (in enger Lage) und als eher dissonantes Intervall (ursprünglich in weiter Lage) nachvollziehen:
Die Quarte kann darüber hinaus ein Anzeichen für einen plagalen Melodieverlauf sein, der sich im Rahmen einer Oktave (Dezime) bewegt und deren Finalis (bzw. in moderner Terminologie deren Grundton) in der Mitte des Ambitus liegt:
Die charakteristische Quarte zwischen Repercussa (5. Ton) und Finalis (1. Ton) am Anfang des Altus aus dem Salve Regina von Jacobus Vaet ist zum Beispiel ebenso wie die Kadenz am Ende des Beispiels ein Anzeichen für einen plagalen Melodieverlauf mit Finalis g. Diese Kriterien sind aussagekräftiger als der Umfang (Ambitus), denn dadurch, dass der Klangraum über der Finalis nicht genutzt wird, könnte das Beispiel aufgrund des Ambitus auch authentisch sein:
Charakteristische Quarten zwischen dem Quint- und Grundton prägen auch den Anfang vieler Volks- und Kinderlieder. Aufgrund dieser melodischen Qualität des Quintintervalls werden Liedanfänge in der Gehörbildung häufig als Merkhilfen verwendet:
Doch auch in anderen Kontexten ist das Quartintervall sehr typisch, z.B. in der Bassstimme einer Quintfallseqenz mit Grundakkorden:
Erstellung des Beitrags: 1. April 2013
Letzte Änderung des Beitrags am 10. Juni 2014