Die Oberquintmodulation
Eine in der Literatur sehr häufig anzutreffende Modulation führt von einer Ausgangstonart in die Tonart der Oberquinte. Die Wurzeln für diese Form der Modulation lassen sich zurückverfolgen bis in die Zeit der klassischen Vokalpolyphonie. Für Kompositionen einer duralen Tonart waren die Finalis (I) und die Confinalis (V) als Klauselstufen von besonderer Bedeutung, für den C-Modus also die Töne C und G und für den F-Modus die Töne F und C. Das folgende Musikbeispiel zeigt den Anfang des zweistimmigen »Quia fecit mihi magna« aus dem Magnificat quinti Toni von Jacobus Vaet:
Die zweistimmige Komposition beginnt und endet (in der Abbildung nicht mehr zu sehen) mit der Finalis F, wobei Diskant und Altus über weite Strecken im Unterquintkanon geführt werden. Der Kanon ist am Anfang etwas versteckt, weil die Nachahmung nicht real, sondern modal erfolgt (die wichtigsten Töne F-C im Diskant werden im Altus nicht mit C-G, sondern mit C-F beantwortet). Typisch für Kompositionen dieser Zeit ist das ›fuggir la cadenza‹ (das ›Flüchten der Kadenz‹), das hier daran zu erkennen ist, dass in den Kadenzen jeweils nur eine Stimme in die Finalis geführt wird, während die zweite pausiert und anschließend neu einsetzt. Die erste Kadenz führt auf die Finalis F (erster Kasten), die zweite auf die Confinalis C (zweiter Kasten). Für ein Verständnis der Oberquintmodulation ist die stufenweise Bewegung der Unterstimme zum Ton C in der zweiten Kadenz wichtig: F-E-D-C (durch Balken gekennzeichnet).
Da die Vokalmusik des 16. Jahrhunderts für die Entwicklung der Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts von Bedeutung war, verwundert es wenig, dass sich auch in vielen Instrumentalwerken dieser Zeit nach einer Kadenz in der Grundtonart eine Kadenz in der Oberquinttonart findet. Das folgende Beispiel ist aus der Triosonate in F-Dur Op. 3, Nr. I von A. Corelli:
Die erste Taktgruppe (T. 1−4) endet mit einer Kadenz in der Ausgangstonart F-Dur. Anschließend wendet sich die Musik in die Tonart der V. Stufe C-Dur. Wie im »Quia fecit mihi magna« von J. Vaet lässt sich die harmonische Bewegung von der I. zur V. Stufe über eine Tonleiterbewegung verstehen (siehe Balken). Nur ist die Tonleiterstruktur F-E-D-C in diesem Fall schwieriger zu erkennen, weil sie von einer Achtelverzierung (Diminution) des Basses verdeckt wird.
In sehr vielen pädagogischen Anleitungen des 17. und 18. Jahrhunderts wird die Oberquintmodulation mit einer Standardharmonisierung über die Regola del'ottava gelehrt. In der Regola erklingt die Oberquintmodulation in den ersten vier Tönen der Abwärtsbewegung, also in der F-Dur-Tonleiter bei Spiel der Töne F-E-D-C:
Der bedeutende Wechsel von der I. zur V. Stufe einer Tonart, den man in nahezu jeder Dur-Komposition des 17. und 18. Jahrhunderts entdecken kann, haben Komponisten jener Zeit also schon mit der Regola dell'ottava erlernen können. Die Regola abwärts als Übung zur Oberquintmodulation aufzufassen ist dabei auch aus historischer Perspektive sinnvoll: Denn in dieser Harmoniefolge versteckt sich das zweimalige Zusammenspiel von Sopran und Tenorklausel, bzw. in die F-Dur-Regola abwärts sind zwei kontrapunktische Kadenzen auf C und F eingelassen:
Sehr interessant in dem Beispiel von A. Corelli ist im Hinblick auf die Regola-Harmonisierung auch ein Durchgangston: Das H im 5. Takt bzw. das vierte Achtel im Bass am Anfang der Oberquintmodulation:
Durch dieses H in Verbindung mit den Tönen F und A der Oberstimmen hören wir kurz einen dominantischen und das C-Dur vorbereitenden Klang (H-F-A als Klangvariante eines dominantischen G-Dur). Misst man diesem Klang Bedeutung zu, beginnt die Oberquintmodulation von F-Dur nach C-Dur mit der Akkordfolge F-Dur, G-Dur und C-Dur, worin man letztendlich eine Kombination der in der Regola dell'ottava gegebenen Harmonisierungsmöglichkeiten sehen kann. Das lässt sich veranschaulichen, wenn man den zweiten Abschnitt der F-Dur-Regola auf das Tonhöhenniveau des ersten Abschnitts transponiert (also B-A-G-F eine Quinte aufwärts zu F-E-D-C):
Der Sekundakkord ist in den bisherigen Beispielen Durchgangsereignis auf metrisch leichter Zeit gewesen. Doch häufig findet er sich in der Literatur auch auf metrisch schwerer Zeit:
Damit auch die Zieltonart in diesem Fall auf einer metrisch schweren Zeit erklingen kann, wird das Modell nicht selten durch einen Septimvorhalt verlängert. Die hier entstehenden Klänge lassen sich in der Zwei- und Dreistimmigkeit sowohl als Quartvorhalt der Dominante als auch als II-V-I-Kadenzharmonik in der Zieltonart interpretieren. Theorie- und kompositionsgeschichtlich ist vermutlich die erste Interpretation häufig zutreffender, heute kann man sich jedoch des Eindrucks einer harmonischen Beschleunigung und eines kadenziellen II-V-I-Abschlusses nur schwer entziehen. Die oben gezeigte Ausprägung des Modells findet sich beispielsweise im Grave der Triosonate in B-Dur Op. 3, Nr. III von A. Corelli. Zum besseren Vergleich wurde auch dieses Beispiel nach F-Dur transponiert:
Spielen Sie den Anfang der Triosonate in B-Dur Op. 3, Nr. III, T. 1-4 nach dem originalen Notentext in B-Dur am Klavier:
Wenn man auf die Abfolge der Harmonien achtet (F-Dur / G-Dur / C-Dur / d-Moll / G-Dur / C-Dur) und von der real komponierten Stimmführung abstrahiert, kann man das Oberquintmodulationsmodell in zahlreichen kleineren und größeren Kompositionen des 18. Jahrhunderts entdecken wie zum Beispiel in dem Präludium in C-Dur BWV 939 von J. S. Bach. Auch dieses Stück ist für den einfacheren Vergleich nach F-Dur transponiert worden:
Spielen Sie das kleine Präludium BWV 939 von J. S. Bach in der originalen Tonart C-Dur:
Während die Kombination von Sekundakkord am Anfang und II-V-I-Abschluss am Ende der Oberquintmodulation für das Generalbasszeitalter sehr charakteristisch ist, verwendet Wolfgang Amadé Mozart diese Form nur vereinzelt wie beispielsweise im Menuett des Streichquartetts in G-Dur KV 156:
Anhand dieses Beispiels lässt sich allerdings ersehen, dass Mozart einzelne Akkordverbindungen des Oberquintmodulationsmodells wiederholt (im Beispiel oben die Wendung A-Dur / D-Dur). Stellen Sie sich daher die Harmoniefolgen des Modells wie ein "Schiene" vor, auf dem der "Zug Oberquintmodulation" nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts und wieder vorwärts fahren kann. Darüber hinaus ist es natürlich auch möglich, die Harmoniefolge (Taktgruppe) bzw. Modulation als Ganzes zu wiederholen.
Für die Oberquintmodulation bei Mozart können die in der Regola dell'ottava abwärts erklingenden Harmonien (vom 8. bis 5. Ton) mit und ohne abschließende II-V-I-Wendung als ein Standard bezeichnet werden:
Solche Modulationen sind im Werk Mozarts ausgesprochen häufig anzutreffen. Ohne eine abschließende II-V-I-Wendung erklingt die Modulation in die Oberquinte beispielsweise im III. Satz der berühmten Sonate ›facile‹ in C-Dur KV 545:
Mit einer abschließenden II-V-I-Wendung ist sie dagegen im III. Satz der Klaviersonate in D-Dur KV 311 zu hören:
In einer interessanten Harmonisierungsvariante beginnt das Modell anstelle des Durakkords mit einem Mollakkord:
Auf den ersten Blick ist die Variante sehr unscheinbar und man muss wegen des gleichen Außenstimmensatzes schon aufmerksam sein, um den Unterschied überhaupt erkennen zu können. Ausarbeitungen dieser Harmoniefolge können unspektakulär klingen wie zum Beispiel im 3. Satz der Klaviersonate in F-Dur KV 280:
Allerdings hat Mozart seit Ende der 1770er Jahre den Basston des ersten Akkords verändert sowie zwischen dem einleitenden Mollakkord und dem Beginn der abschließenden II-V-I-Wendung einen zwischendominantischen Klang verwendet:
Diese Form der Oberquintmodulation hat Mozart dann sehr effektvoll beispielsweise in der 1778 in Mannheim entstandenen Sonate für Violine und Klavier in Es-Dur KV 302, der wahrscheinlich im selben Jahr in Paris entstandenen Klaviersonate in F-Dur KV 332 oder der 1785 in Wien entstandenen Sonate für Klavier und Violine in Es-Dur KV 481 ausgearbeitet. Insbesondere der Beginn mit einem Moll-Grundakkord, der zur Dur-Ausgangstonart einen starken Kontrast bildet, dürfte im Hinblick auf die F-Dur Sonate KV 332 dazu geführt haben, dass angesichts der Originalität die Nähe zur Regola dell'ottava lange Zeit nicht aufgefallen ist (die Abweichungen sind rot markiert):
Im 19. Jahrhundert bleibt die in der Regola wurzelnde Oberquintmodulation ein beliebtes Kompositionsmodell. Ludwig van Beethoven beispielsweise experimentiert in seinen Klaviersonaten mit der Oberquintmodulation und gewinnt dem Modell hier ganz neue Wirkungen ab. In kleineren Werken wie dem Variationsthema des II. Satzes der Sonate für Violine und Klavier in D-Dur Op. 12, Nr. 1 finden sich Oberquintmodulationen auch bei Beethoven noch in ganz traditioneller Form:
Dass Robert Schumann das Oberquintmodulationsmodell gekannt hat, lässt sich an vielen Kompositionen ersehen. Der Jugend zum Üben empfohlen hat er es durch ein kleines Stückchen, das sehr bekannt geworden ist: »Fröhlicher Landmann / von der Arbeit zurückkehrend«.
Das Modell mit Standardharmonisierung charakterisiert auch die Oberquintmodulation in dem Walzer in E-Dur Op. 39, Nr. 2 von Johannes Brahms:
Und aus der Perspektive des Modells ist trotz der Abweichungen (die entsprechenden Töne sind rot markiert) der harmonische Weg von F-Dur nach C-Dur in dem Lied "Morgen" Op. 4, Nr. 2 (1890−1893) von Sergei W. Rachmaninow leicht zu verstehen:
Erstellung des Beitrags: 16. Mai 2014
Letzte Änderung des Beitrags am 9. Juni 2014