Passacaglia 1 - Grundlagen
Allgemeine Hinweise
Das Schreiben einer barocken Passacaglia dürfte wohl nur noch an den professionellen Musikausbildungsstätten seinen Platz haben. Sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen hat Vor- und Nachteile: Ein Vorteil liegt sicherlich darin, dass − gemessen an einer komplexen Partitur − man an einem relativ einfachen Notentext grundlegende musikalisch-satztechnische Kompetenzen erlernen kann (z.B. das Fähigkeit, eine Bassvorgabe zu harmonisieren, einen gut klingenden Außenstimmensatz einrichten und einen Klangraum sinnvoll gestalten zu können usw.). Der größte Nachteil dürfte in der lebensweltlichen Relevanz liegen, da man (nach einer erfolgreichen Prüfung im Fach Musiktheorie) wohl nur noch selten vor der Aufgabe stehen wird, eine Passacaglia für ein Tasteninstrument auszuarbeiten.
Wenn Sie sich entschieden haben, das Schreiben einer Passacaglia (oder eines Variationssatzes im Stile des 18. Jahrhunderts) zu üben, können Sie wie folgt vorgehen:
- Harmonisierungen einer Bassvorgabe
- Erstellen von Außenstimmensätzen
- Motivische Ausarbeitungen (Diminutionen)
Harmonisierungen einer Bassvorgabe
Im Folgenden können Sie die exemplarische Vorgehensweise anhand einer Bassstimme üben, mithilfe der viele große Komponisten des 18. Jahrhunderts mindestens ein größeres Stück komponiert haben (z.B. G. F. Händel eine Passacaglia, J. S. Bach die Goldberg-Variationen u.v.a.):
Eine Standardharmonisierung mithilfe der Oktavregel führt zu der folgenden Harmonisierung:
Doch eine stiltypische Harmonisierung allein ist noch kein Garant für eine gut klingende Ausarbeitung einer Passacaglia-Variation. Mindestens genauso wichtig für ein gut klingendes Ergebnis ist der Außenstimmensatz.
Erstellen von Außenstimmensätzen
Wenn man fein hinhört, hat Musik des 18. Jahrhundert einen grundlegend anderen Klang als Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert. Das liegt daran, dass in Außenstimmensätzen von Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert im Verlauf von Phrasen oftmals auch perfekte Konsonanzen − also Quinten und Oktaven − erklingen, während für Musik aus dem 18. Jahrhundert im Verlauf von Phrasen die imperfekten Konsonanzen − also Terzen und Sexten − besonders wichtig sind. Die Oktave und die Quinte haben eine besondere Funktion und erscheinen meist in Verbindung mit einer Halb- oder Glanzschlusswirkung.
Wenn Sie einen Außenstimmensatz erstellen wollen, müssen die Töne der Ober- und Unterstimme
- zu der gewählten Harmonie passen
- möglichst ein Terz- oder Sextintervall bilden.
- Die Quinte kann gut klingen für eine Halbschlusswirkung,
- die Oktave empfiehlt sich für einen vollkommenen Ganzschluss.
Für die oben harmonisierte Bassstimme ergeben z.B. die folgenden Außenstimmensätze einen charakteristischen Klang:
Diese möglichen Außenstimmenintervalle können Sie natürlich auch kombinieren, probieren Sie es aus, auch die folgenden Intervallfolgen klingen gut: 3-3-3-3-3-3-4/3-3 oder 3-6-6-3-6-6-6/5-3. Die 6 in der zuletzt genannten Intervallfolge würde zu einer a-Moll-Harmonisierung über dem C führen, die allerdings als Variante der IV. Tonleiterstufe in der Regola dell'ottava vorgesehen bzw. möglich ist.
Veranschaulichen Sie sich, dass im Außenstimmensatz Terz und Sexte möglich sind, wenn sich im Bass die Terz oder der Quintton der Harmonie befindet. Liegt der Grundton der Harmonie im Bass, ist in der Oberstimme nur die Terz möglich (eine Sexte würde die Harmonisierung verändern).
Liegt die Quinte einer Harmonie im Bass, beachten Sie bitte: Quartsextakkorde klingen im 18. Jahrhundert fast immer fehlerhaft. Ausnahme: der sogenannte Vorhaltsquartsextakkord in einer Kadenz (wie im vorletzten Takt der Beispiele oben).
Motivische Ausarbeitungen (Diminutionen)
Im Folgenden soll eine Passacaglia für ein Tasteninstrument ausgearbeitet werden. Eine Schwierigkeit bildet gleich der Anfang. Ist er zu einfach gehalten, um den anschließenden Variationen nichts wegzunehmen, dann gerät der erste Bassdurchgang meist sehr langweilig. Deswegen ist es gut, in auf eine besondere Weise zu gestalten, z.B. im Stil einer französischen Ouvertüre. Hierzu können wir uns einen typischen Rhythmus einer französischen Ouvertüre z.B. von J. S. Bach ›borgen‹:
Johann Sebastian Bach, Ouvertüre der Orchester-Suite
Nr. 2 in h-Moll BWV 1067 (Ton Koopman)
Quelle: YouTube
Natürlich müssen wir diesen Rhythmus noch dem 3/4-Takt einer Passacaglia anpassen (wenn Sie die Abbildung berühren, können Sie sehen, welche Teile der Rhythmik ich mir für die folgende kleine Ausarbeitung von Bach geborgt habe).
Den Rhythmus des Basses (beim Berühren der Noten oben und unten gelb markiert) habe ich mir übrigens aus einer anderen (französischen) Ouvertüre Bachs (Anfang der h-Moll-) ›geborgt‹ und dem Dreivierteltakt der Passacaglia angepasst:
Johann Sebastian Bach, Ouvertüre der Partita in D-Dur
BWV 828 (Trevor Pinnock), Quelle: YouTube
Und sollten Sie nun der Meinung der Prinzen sein, das »ist doch alles nur geklaut«, dann kann ich Sie beruhigen: Im 18. Jahrhundert hatte man ein liberaleres Verständnis im Hinblick auf die Rechte eines Urhebers. Die Nachahmung galt im 18. Jahrhundert als legitimes Mittel der Pädagogik bzw. beim Erlernen des Kompositionshandwerks:
Der locus exemplorum könnte wol in diesem Fall auf eine Nachahmung andrer Componisten gedeutet werden, wenn nur seine Muster dazu erwehlet, und die Erfindung bloß imitiret, nicht aber nachgeschrieben und entwendet würden. Wenn endlich alles um und um kömmt, wird an dieser Exempel=Quelle, so wie wir sie hier nehmen, wol das meiste hergeholet: es ist auch solches nicht zu tadeln, wenn nur mit Bescheidenheit dabey verfahren wird. Entlehnen ist eine erlaubte Sache; man muß aber das Entlehnte mit Zinsen erstattet [...]
Mattheson 1739, S. 131.
Die nächste Variation ist gegenüber der ouvertürenhaften Vorstellung des Themas relativ einfach. Das folgende Beispiel zeigt den Gerüstsatz und beim Berühren der Abbildung eine einfache Ausarbeitung der linken (Viertel) und rechten (Achtel) Hand:
Über verschiedenen Möglichkeiten der Diminution, über polyphone Inszenierungen und die Dramaturgie (Kontraste, ritardierende Momente etc.) können Sie mehr in dem Tutorial Passacaglia 2 (Ausarbeitungen und Form) zu Passacaglia erfahren.
Wenn Sie mehr über das Schreiben einer Passacaglia lernen möchten, können Sie auch eines der folgenden Tutorials lesen:
- Passacaglia 2 - Kontraste und Dramaturgie
- Die Oktavregel (Regola dell'ottava)
- Satzmodelle (Sequenzen)
Literatur
- Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739.
Erstellung des Beitrags: 27. Februar 2018
Letzte Änderung des Beitrags am 1. März 2018