Kontrapunkt 6 (16. Jahrhundert) - Improvisation zwei- und dreistimmiger Sätze
Das folgende Notenbeispiel zeigt den Beginn des dreistimmigen Christe eleison der Messe Missa Comment peult avoir joje von Heinrich Isaak (um 1450−1517). An dem Beispiel ist auffällig, dass die oberen beiden Stimmen einen ›korrekten‹ zweistimmigen Kontrapunkt bilden, während die dritte Stimme konsequent in Dezimparallelen zur Oberstimme verläuft. Das ist im Sinne klassischer Kontrapunktlehren eigentlich ›verboten‹, weil die Bewegung der Basstimme damit vom Sopran abhängig und nicht mehr selbständig ist:
Auf der Grundlage dieser Beobachtung lässt sich eine Anleitung zum Improvisieren dreistimmiger Kontrapunkte am Klavier entwickeln. Als Vorlage zur Veranschaulichung der Vorgehensweise wurde die Schlusszeile des Chorals Aus tiefer Not schrei ich zu dir gewählt.
Die folgende Abbildung zeigt einen Kontrapunkt zu dieser Choralzeile, an dem sich verschiedene Möglichkeiten zweistimmiger Zusammenklänge veranschaulichen lassen:
Über der ersten ganzen Note f in der Vorgabe wurden die Töne a und c gesetzt. Während also in der Unterstimme ein Ton liegt, erklingt in der oberen Stimme eine Bewegung, was dem Kontrapunkt rhythmische Eigenständigkeit verleiht. Anschließend erklingt in der Vorgabe die Bewegung vom f zum e. Will man in der Oberstimme an dieser Stelle auf eine gleichzeitige Bewegung verzichten, bietet es sich an, den Ton c liegen zu lassen, wodurch zur Choralmelodie die Intervallfolge 5-6 erklingt usw. Am Ende des Beispiels schließt eine zweistimmige Kadenz die Phrase musikalisch ab (falls Sie diese Kadenz nicht ergänzen könnten, haben Sie die Möglichkeit, sich hier die entsprechenden Kompetenzen anzueignen: Die Kadenz). Wenn man also nach Möglichkeit zu einem Liegeton eine Bewegung und zu einer Bewegung einen Liegeton spielen sowie im 16. Jahrhundert untypische Dissonanzen vermeiden will, bieten sich die folgenden Intervallkombinationen an, wobei die schrittweise Bewegung zu einem Liegeton nur die 6−5− bzw. 5−6−Seitenbewegung ermöglicht.
Vergleicht man diese Intervallkombinationen mit dem vorangegangenen zweistimmigen Beispiel, kann man dort genau diese Intervallkombinationen entdecken. Einen solcher zweistimmiger Satz lässt sich anschließend als dreistimmiger Satz improvisieren, indem man im Bass Unterdezimen zur Oberstimme greift:
Probleme und Lösungen
Stellen Sie sich vor, Sie hätten den Kontrapunkt zur Melodie wie folgt gestaltet:
Dann hätte sich bei der improvisierten Dreistimmigkeit der folgende Satz ergeben:
In diesem Satz befinden sich jedoch leider Oktavparallelen zwischen der Choralmelodie und dem Bass, dass heißt, dieser Satz wäre im Sinne des 16. Jahrhunderts fehlerhaft bzw. unbrauchbar. Wie ist es dazu gekommen?
Durch Probieren (oder systematisches Überlegen) werden sie schnell bemerken, dass das Problem in der Terz-Parallelführung zwischen Vorgabe (Choralmelodie in der Mittelstimme) und dem Kontrapunkt (im Sopran) liegt. Denn genau diese Terzparallele führt in Verbindung mit dem improvisierten Bass (in Dezimparallelen) zu Oktavparallelen. Man kann verallgemeinern, dass jede Parallelbewegung in imperfekten Konsonanzen (Terzen/Sexten) zwischen Vorgabe und Kontrapunkt zu einem Satzfehler in der improvisierten Dreitimmigkeit führt:
Für diesen Aufgabentyp müssen Sie beim Erstellen des Zweistimmigen Satz also strenger sein als die Kontrapunktlehren der Zeit, in denen Folgen von bis zu vier imperfekten Konsonanzen als unproblematisch angesehen wurden. Noch besser wäre es, wenn Sie Terz- und Sextparallelen aus musikalischen Gründen sehr bewusst einsetzen und an der entsprechenden Stelle im Bass den Dezimparallelismus aussetzen und eine andere möglich Konsonanz greifen, zum Beispiel:
Positiver Nebeneffekt einer solchen Korrektur wäre, dass der Bass an dieser Stelle auch eigenständig gegenüber dem sopran wird und es für das Hören immer schwerer wird, wie sie die dritte Stimme ›denken‹ bzw. spielen.
Ein weiteres Beispiel
1. Die Vorlage spielen und gut innerlich vorstellen können:
2. Einen Kontrapunkt über der Vorgabe erfinden und auf die Zusammenklänge achten (5-6 / 6-5 / 5-3 / 3-5 / 3-6 / 6-3). Den zweistimmigen Satz müssen Sie sich merken und wiederholen können:
3. Bass in Dezimen zum Sopran spielen:
Können Sie sich das es im Bass erklären?
Die Vorgehensweise in einem Video zusammengefasst:
- Die Kadenz (als Schlusswendung)
- Kontrapunkt 1 (16. Jahrhundert) - Eine Einführung
- Kontrapunkt 2 (17. Jahrhundert) - Synkopendissonanz
- Kontrapunkt 3 (16. Jahrhundert) - Zum zweistimmigen Kontrapunkt
- Kontrapunkt 4 (16. Jahrhundert) - Zum mehrstimmigen Kontrapunkt
- Kontrapunkt 5 (16. Jahrhundert) - Fuggir la cadenza (Fliehen der Kadenz)
- Kontrapunkt 6 (16. Jahrhundert) - Improvisation zwei- und dreistimmiger Sätze
- Kontrapunkt 7 (16. Jahrhundert) - Zur formalen Gestaltung
- Kontrapunkt 8 (17. Jahrhundert) - Chromatik und manieristischer Dissonanzgebrauch
Erstellung des Beitrags: 6. April 2016
Letzte Änderung des Beitrags am 6. April 2016