Kontrapunkt 5 (16. Jahrhundert) - Fuggir la cadenza (Fliehen der Kadenz)

von Ulrich Kaiser

In diesem Tutorial wird das Verständnis für die Satztechnik einer Kadenz vorausgesetzt. Durch die standardisierte Satztechnik einer Kadenz ist es für erfahrene Hörerinnen und Hörer möglich, den Abschluss einer musikalischen Phrase vorauszuhören. Bereits im 15. und 16. Jahrhundert wurden dabei Techniken entwickelt, den Kadenzvollzug soweit zu erhalten, dass der musikalische Abschluss noch fühlbar blieb, dieser aber doch soweit abgeschwächt wurde, dass der den musikalischen Verlauf nicht wirklich unterbrach. Diese Techniken werden auch als ›Fliehen der Kadenz‹ bzw. ›fuggir la cadenza‹ bezeichnet.



Verkürzte Ultima oder Pause

Das folgende Beispiel von Orlandus Lassus (»Ipsa te cogat« aus dem Hymnus »Jesu nostra redemptio«) veranschaulicht zwei sehr einfache, jedoch effektive Möglichkeit für ein ›Fliehen der Kadenz‹:

  1. Die Ultima wird rhythmisch verkürzt und eine neue Phrase begonnen oder
  2. die letzte Note der Klausel (Ultima) wird weggelassen und an ihrer Stelle eine Pause gesetzt. Nach dieser (kurzen) Pause wird der Ton der Ultima quasi ›nachgereicht‹ und bildet mit einem neuen Soggetto den Beginn der nächsten Phrase.
Kadenzflucht Notenbeispiel 2

Bei a) ist eine zweistimmige Kadenz mit der Sopranklausel in der Oberstimme und der Tenorklausel in der Unterstimme zu sehen. In der Unterstimme wird die Ultima auf eine Minima (= Halbe) verkürzt, und auf der zweiten Halben beginnt die zweite Hälfte der Phrase (»pietas«). Diese Phrase wiederum überspielt die Pause nach der Ultima in der Oberstimme.
Bei b) wird in der Oberstimme die Ultima (Finalis d) weggelassen und statt der Finalis eine Minima-Pause gesetzt. Nach der Pause beginnt die Oberstimme mit einem neuen Soggetto.

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Klauseln als Soggetto

Wird ein Soggetto so gewählt, dass es melodisch wie eine Klausel beginnt (Sopran-, Tenor, Alt- oder Bassklausel), dann kann man den Beginn einer neuen Phrase mit einer Kadenz verschränken. Das erste Beispiel zeigt, wie die Sopranklausel einer Kadenz einen neuen Abschnitts beginnen kann:

Kadenzflucht Notenbeispiel 4

Das nächste Beispiel zeigt, wie die Altklausel eine neue Phrase beginnen kann (Terzsprung abwärts, der mit einer Durchgangsnote verziert worden ist):

Kadenzflucht Notenbeispiel 5

Auch ein Soggetto in Form einer Tenorklausel kann eine neue Phrase initiieren:

Kadenzflucht Notenbeispiel 5

Und das letzte Beispiel zeigt eine Bassklausel als Soggetto einer neue Phrase:

Kadenzflucht Notenbeispiel 5

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Manieristische Verwendungen im Madrigal

Durch das ›fuggir la cadenza‹ können mehrere Kadenzen ineinander verschränkt werden. Die einzelnen Synkopendissonanzen der Kadenz bilden dadurch eine Dissonanzhäufung, welche zur Textausdeutung eingesetzt worden ist. Das lässt sich schön anhand eines Motettenbeginns von Tobias Michael veranschaulichen:

Kadenzflucht Notenbeispiel 6 Kadenzflucht Notenbeispiel 7

Sie sehen in diesem Motettenanfang als erstes eine phrygische Kadenz auf e (Alt und Bass), dann eine vermiedene Kadenz auf a (Sopran, Tenor und Bass). Das Vermeiden geschieht durch die Rücknahme des Leittons im Tenor im dritten Takt (diese Wendung wird auch als Motivo di cadenza bezeichnet). Dieser Kadenz folgt eine Kadenz auf g (die im Original auch durch ein ›motivo di cadenza‹ vermieden wird), einer Kadenz auf c sowie eine weitere phrygische Kadenz auf e (die wie eine cadenza doppia auf a gestaltet wird).
Wenn Sie die Noten berühren, sehen Sie den originalen Notentext und wenn sie sich dazu das Notenbeispiel anhören, werden Sie feststellen, dass man anstelle der beschriebenen Kadenzen ein nicht enden wollendes Band von Vorhaltsdissonanzen hört, die der Veranschaulichung des Textes dienen: "Unser Trübsal".
Das Schreiben von Kadenzen mit einer Synkopendissonanz war selbstverständlich eine in Motetten erlaubte Satztechnik. Insofern lässt sich sagen, dass Michael sich an die in motettischer Musik gängigen Wendungen hält. Das ineinander Verschränken von fünf Kadenzen auf engstem Raum, so dass ein Band von Vorhaltsdissonanzen entsteht, sucht man jedoch in Motetten des frühen 16. Jahrunderts vergeblich. Michael hält sich zwar einerseits an die Tradition, verdichtet sie aber auf eine Weise, die etwas Neues entstehen lässt, und zwar eine Stilistik, die typisch für Madrigalmusik des frühen 17. Jahrhunderts ist. Carl Dahlhaus hat das Erschaffen von etwas klanglich Neuem durch Übersteigerung traditioneller Mittel als musikalischen Manierismus bezeichnet. Insofern lässt sich der Anfang der Motette als musikalischer Manierismus, als madrigaleske Passage in einer Motette oder auch als geistliches Madrigal bezeichnen (vg. hierzu die Kompositionen aus dem Israelsbrünnlein von Johann Hermann Schein, die er »auf eine sonderbar, Anmutige Italian Madrigalische Manier« komponiert und als ›Geistlichen Madrigale‹ überschrieben hat).


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