Stilübungen (allgemeine Überlegungen)

von Ulrich Kaiser

Stilübungen sind in vielen Ausbildungskontexten anzutreffen. Im Studium der Klassischen Philologie beispielsweise werden als Stibübungen die Übersetzung neusprachlicher Texte ins Lateinische und Altgriechische bezeichnet, wobei der Hauptzweck von Stilübung in der Aneignung einer antiken Sprachen gesehen wird. Wolfgang v. Goethe hat den Wert von Stilanalysen bereits im 18. Jahrhundert für die Malerei benannt:

Nehmen Sie einen recht aufrichtigen Dank für die schönen Zeichnungen, die Sie mir geschickt haben! Mir scheint unmöglich, die Virtuosität höher zu treiben. Ich habe mich sogleich hingesetzt und eine nachgekritzelt. Man sieht die Höhe, die der Künstler erreicht hat, nicht lebhafter, als wenn man versucht, ihm einige Stufen nachzuklettern.

J. W. v. Goethe, Brief an Ferdinand Kobell vom 5. Februar 1781, in: Goethes Werke, Weimar 1887–1912, IV. Abteilung, Bd. 5, S. 47.

Entscheidend ist also weniger das Ergebnis, sondern vielmehr der Prozess des Nacherlebens, der unsere Wahrnehmung schärft und das Verständnis für das Nacherlebte intensiviert. Leicht lässt sich Goethes Erkenntnis für eine Beschäftigung mit Musik adaptieren: »Man hört die Feinheiten einer Komposition nicht besser, als wenn man versucht, einen Komponisten oder musikalsichen Stil zu imitieren«. Denn erst in der praktischen Anwendung und im Überprüfen unseres musikalischen Wissens in Form von Stilünungen zeigt sich, ob unsere Kenntnisse über diesen Stil angemessen sind oder ggf. erweitert werden müssen. Das Imitieren von Vorbildern hat eine lange Tradition in der Musikerziehung bzw. dem Erlernen des Kompositionhandwerks.

1739 publizierte Johann Mattheson in seinem Buch Der vollkommene Capellmeister die Loci Topici der Redekunst und übertrug sie auf Musik. Für Mattheson war der ›locus exemplorum‹ eine Erfindungsquelle, aus der »wol das meiste hergeholet« werden konnte:

Der locus exemplorum könnte wol in diesem Fall auf eine Nachahmung andrer Componisten gedeutet werden, wenn nur seine Muster dazu erwehlet, und die Erfindung bloß imitiret, nicht aber nachgeschrieben und entwendet würden. Wenn endlich alles um und um kömmt, wird an dieser Exempel=Quelle, so wie wir sie hier nehmen, wol das meiste hergeholet: es ist auch solches nicht zu tadeln, wenn nur mit Bescheidenheit dabey verfahren wird. Entlehnen ist eine erlaubte Sache; man muß aber das Entlehnte mit Zinsen erstattet [...]

Mattheson 1739, S. 131.

1789 veröffentlichte Johann Gottfried Portmann in Darmstadt ein Leichtes Lehrbuch der Harmonie, Composition und des Generalbasses, zum Gebrauche für Liebhaber der Musik, angehende und fortschreitende Musici und Componisten. In diesem Büchlein findet sich eine Methode für den fortschreitenden Componisten, mithilfe eines aus einem Meisterwerk geborgten Grundbass sowie harmonischer und melodischer Variation ein eigenes Stück zu komponieren. Portmann führt aus:

So will ich einen Entwurf zu dem Allegro einer Claviersonate in D dur machen. Ich setze also die Haupttonart D dur fest, in welcher ich anfange und moduliere; hernach weiche ich durch durch die Dominante [...] in die Nebentonart der Quinte aus, moduliere und schliesse darinnen [...] Im anderen Theile fange ich an mit lauter Ausweichungen zu mdoulieren. A moll [...] ist der Punkt, von welchem ich ausgehe; auf A moll lasse ich folgend dei Dominante H von E moll [...]
Sobald man die vorläufigen Begriffe von der Beschreibung der Composition [...] recht gefaßt hat [...] vergleiche man andere gut componierte Werke vond den besten Meistern, und erforsche, ob in diesen Werken das wirklich anzutreffen ist [...]
Aber vergessen soll man meine Arbeit bei der Lectüre oder dem Vortrage der Arbeit eines Mozarts, von dem ich die Grundharmonie mit gutem Vorbedacht borgte [...] Niemand wird mir dies Borgen für einen Diebstahl auslegen, da jedermann einsehen kann, daß ich, nach angegebenen Grundabsätzen, hundertelei andere [...] Verbindungsarten derselben, an deren Stelle hätte setzen können.
Wenn die Notenarten oder Melodiearten miteinander vertauscht werden, so, daß die Harmonie dieselbe bleibt, so ist das melodische Variation […] Wenn die Harmonie vertauscht wird, und die Melodie bleibt, so heißt dies harmonische Variation […] Geschieht beides […] so wird es doppelte Variation genennt
Die Grundharmonie nehme ich nun Stückweise vor, [...] diese erfundene Melodiearten verändere, putze und verbessere ich so lange, bis sie den Geschmack und das Ohr ergötzen [...]

Portmann 1789, S. 50 ff.

Das bisher Gesagte zielt auf die Stärkung einer Fach- und Entscheidungskompetenz, die Grundlage für eine Eigenständigkeit des Urteils in Bezug auf Kunstwerke sowie Auswahl und Umsetzung musikalischer Inhalte in der Musikpädagogik sind. Doch wie in allen Bereichen wird auch die Digitalisierung nicht vor dem Bereich der Stilübung halt machen. Es ist absehbar, dass der Computer mithilfe künstlicher Intelligenz bessere Choralsätze und Webplattformen auf Konpfdruck bessere Filmmusik generieren können, als man es in einem drei- bis fünfjährigen Studium erlernen könnte. Doch die Abkehr von dem mühsamen und zeitintensiven Weg des persönlichen Kompetenzerwerbs wird − wie in allen Bereichen des Lebens − die persönliche Eigenständigkeit schwächen und die Abhängigkeiten (von Technik und Spezialisierung) stärken. Die Frage nach der Stilübung ist deshalb unmittelbar abhängig von der Frage, welche Gegenstände wir in der in der Musikausbildung delegieren und welche wir für die Ausbildung einer persönlichen musikalischen Kompetenz erhalten wollen.