Was ist ein Topos?

von Ulrich Kaiser

Als Topos (von griech. τόπος tópos = Ort, Platz, Stelle) werden sprachliche Allgemeinplätze in einer bestimmten Funktion bezeichnet, z.B.:

  • "Hallo, schön Sie zu sehen, wie geht es Ihnen?"
  • »Alles Liebe«, »Mit freundlichen Grüßen« oder »Hochachtungsvoll«

zu a.
Eine formelhafte Begrüßung. Ein Gemeinplatz ist diese Wendung, weil man im Alltag nicht davon ausgehen kann, dass es tatsächlich als schön empfunden wird, dass man gesehen wird (und es sich auch nicht empfiehlt, mehr als "gut" oder "es geht" zu antworten). Diese Sprachformel hat die Funktion der Eröffnung eines Alltagsgesprächs.

zu b.
Eine formelhafte Verabschiedung mit der Funktion des Abschlusses eines Alltagsgesprächs.

Betrachtet man die Beispiele als Gemeinplätze bzw. Topoi und nicht als wörtlich gemeinte Aussage, geben Sie Auskunft über die Sprechenden sowie deren Verhältnis. Im Fall der Begrüßungsformel z.B. ist Höflichkeit ersichtlich, die das Gegenüber mit "Sie" anredet und Anteilnahme zeigt, indem der Begrüßende zu verstehen gibt, dass es ihm nicht egal ist, ob es dem Begrüßten gut oder schlecht geht. Auch die unter b. Verabschiedungsformeln geben Auskunft über das Verhältnis der Akteure (freundschaftlich, neutral, respektvoll-distanziert) und jeder mit den kulturellen Gepflogenheiten Vertraute weiß, dass es unangebracht wäre, mit »Alles Liebe« den Arbeitgeber zu verabschieden und einen Brief an die Freundin mit »Hochachtungsvoll« zu beendeten. Darüber hinaus können Gemeinplätze auch Aufschluss im Hinblick auf Ort und Zeit geben: Mozart beispielsweise hat 1770 aus Italien einen Brief an seine Schwester mit »Meinen handkus an die mama, und an alle meine bekannte meine Empfehlung, und ich bin wie allzeit dein Bruder« geschlossen und J. S. Bach endete ein Schreiben im so genannten »Präfektenstreit« an seinen Vorgesetzten im Jahr 1737 mit den Worten: »Diese allerhöchste Königliche Gnade erkenne mit unsterblicher DankBegierde und beharre in allertieffster Submission Ew. Königl. Majestät allerunterthänigster allergehorsamster Johann Sebastian Bach«.

Topoi in der Musik

In der Musiktheorie werden oftmals Satzmodelle als Topoi bezeichnet. Hartmut Fladt schreibt dazu:

Daß bestimmte Modelle in bestimmten Gattungen oder an bestimmten formal-dramaturgischen Positionen oder in Konteten genau definierbarer Semantik immer wieder von den Komponierenden gleichsam abgerufen wurden und werden, ist wesenlicher Bestandteil ihres Topo-Charakters; so etablierten sich, neben anderen Arten von Zusammenhangsbildungen, grundlegende musikalische Verknüpfungsweisen [...] ›Modell‹ ist primär − abstrakte − Struktur, ›Topos‹ die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung/Funktion.

Hartmut Fladt, »Modell und Topos im musiktheoretischen Diskurs«, in: Musiktheorie 20 (2005), S. 343−369.

Problematisch aus konstruktivistischer Sicht ist an Fladt's Definition die »Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung/Funktion«, sofern damit eine spezifische hermeneutische Interpretation verstanden wird, die Spekulationen über das Denken von Komponisten erlaubt. Unproblematisch dagegen erscheint die Definition, wenn Bedeutung und Funktion als Zuschreibungen eines Beobachters (des Analysierenden) verstanden werden, die keine Systemgrenzen zu überschreiten in der Lage ist (und damit nicht suggeriert wird, einen Durchgriff auf die Absicht von Komponisten sei möglich). In diesem Sinn geht der Topos-Begriff jedoch in einem umfassenderen Modell-Begriff auf, da ein Modell nicht »primär − abstrakte − Struktur« bzw. satztechnische Sachverhalte bezeichnen muss, »sondern auch, für wen, wann und wozu bezüglich seiner je spezifischen Funktionen es Modell ist« (Stachowiak Allgemeine Modelltheorie, Wien 1973, S. 133).

Fasst man Satzmodelle als Modelle auf, sind sie geeignet, verschieden klingende musikalische Sachverhalte in ihrer Funktion und mit ihrer Semantik in Kompositionen unterschiedlicher Zeiten zu referenzieren. Dabei kann eine spezifische Semantik wie die des Klagen und Jammerns zum Beispiel einer Lamentobass-Gestaltung gegeben sein (oder auch nicht). Eine solche Semantik mag für Opern um 1600 − einige der schönsten Lamentobass-Vertonungen finden sich zum Jammern unglücklicher Frauen und Männer wie beispielsweise der Ninfa oder der Arianna − und auch noch für Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts naheliegend sein, für Popmusik wäre sie es nicht. Wird im Kontext einer Popmusik-Analyse der Begriff Lamentobass verwendet, ist er als Name bzw. Label zu verstehen, mit dem ein bestimmter Sachverhalt bezeichnet wird, über den man sich auf der Grundlage dieses Namens über eine entsprechende Gestaltung verständigen kann.