Die Oktavregel (Regola dell'ottava)
Die Oktavregel war im 18. Jahrhunderts einerseits eine Anleitung für den praktischen Umgang mit unbezifferten Bassstimmen (Generalbasspraxis), andererseits eine Methode zum Erlernen des Kompositionshandwerks. Heute ist die Oktavregel in erster Linie ein Modell zur Analyse von Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Die folgende Abbildung aus dem Lehrwerk Ueber die Musikalische Composition von Johann Adolph Scheibe (Leipzig 1773) zeigt eine mustergültige Oktavregel in C Dur:
Aufgabe 1
Setze die obere und untere Bezifferung der Oktavregel als vierstimmigen Generalbasssatz aus und üben Sie, Ihre Aussetzungen flüssig am Klavier zu spielen.
Das Wissen um die Regola ist sehr hilfreich, um unbezifferte Bassstimmen zu beziffern bzw. zu harmonisieren. Das nächste Beispiel zeigt den Bass der Chaconne in G-Dur (G 228) von Georg Friedrich Händel:
Scheibe hatte als Charakteristikum der Bassstufen der Durtonleiter die folgenden Akkorde angegeben:
- Grundakkorde auf der I., IV. und V. Tonleiterstufe (Ziffern 1, 3, 6, 7, 10, 13, 17 und 19)
- Sextakkorde auf den Tonleiterstufen II, III, VI und VII (Ziffern 2, 4, 5, 8, 11, 15, 16 und 18)
- Dominantische Akkorde (6# sowie 24) auf der VI. und IV. Tonleiterstufe abwärts (Ziffern 12 und 14)
- Alternativen: Quintsextakkorde auf der IV. und VII. Tonleitertufe (Ziffern 6 und 9) sowie VI# auch auf der VI. Stufe aufwärts (Ziffer 8)
Im folgenden ist die Bassstimme der Passacaglia mit einer Harmonisierung im Sinn der Regola zu sehen:
Aufgabe 2
Analysieren Sie die Harmonik der ersten Variation aus Händels Passacaglia in G-Dur G 228, vergleichen Sie Händels Harmonisierung mit der Beispielaussetzung und benennen Sie die Unterschiede:
Die nächste Abbildung entstammt wieder dem Lehrwerk Scheibes und zeigt die Oktavregel der Molltonleiter:
Aufgabe 3
Setze die obere und untere Bezifferung der Oktavregel als vierstimmigen Generalbasssatz aus und üben Sie, Ihre Aussetzungen flüssig am Klavier zu spielen.
Als nächstes ist die berühmte Pedalstimme der Orgelpassacaglia in c Moll BWV 582 von Johann Sebastian Bach zu sehen:
Scheibe hatte als Charakteristikum der Bassstufen einer Molltonleiter die folgenden Akkorde genannt:
- Grundakkorde auf der I., IV. und V. Stufe (Ziffern 1, 3, 6, 7, 10, 13, 17 und 19)
- Sextakkorde auf den übrigen Stufen II, III, VI und VII (Ziffern 2, 4, 5, 8, 11, 12, 15, 16 und 18)
- Dominantische Akkorde (Grundstellungen bzw. Sekundakkord) jeweils auf der V. Stufe auf- und abwärts sowie auf der IV. Stufe abwärts (Ziffern 7, 13 und 14)
- Alternativen: Quintsextakkord auf der IV. Stufe aufwärts, Sekundakkord auf der VII. Stufe und verminderten Septakkord auf der IV. Stufe abwärts (Ziffern 6, 11 und 14)
Im Folgenden ist die Bassstimme der Passacaglia mit einer Harmonisierung im Sinne der Regola zu sehen:
Aufgabe 4
Analysieren Sie die Harmonik der ersten Variation aus Bachs Passacaglia in c-Moll BWV 582, vergleichen Sie Bachs Harmonisierung mit der Beispielaussetzung und benennen Sie die Unterschiede:
Exkurse: La petite Sixte und die VI. Tonleiterstufe abwärts
In der Augsburger Generalbassanleitung (Der Wohl unterwiesene General-Baß-Schüler, Oder Gespräch zwischen einem Lehrmeister und Scholaren vom General-Baß […]) von Georg Joachim Joseph Hahn aus dem Jahre 1751 wird anschaulich beschrieben, dass über der zweiten und sechste Tonleiterstufe eine »ungezeichnete Quart«‹ − also eine nicht in der Bezifferung angegebene Quarte − gespielt werden soll:
Das nächste Notenbeispiel zeigt die entsprechenden Wendungen aus Hahns Generalbassanleitung in modernen Schlüsseln, wobei die ›ungezeichneten Quarten‹ rot gekennzeichnet worden sind:
Aufgabe 5
In der Aussetzung Hahns befindet sich ein Satzfehler. Dieser Fehler hat seine Ursache in einem in älteren Publikationen nicht selten anzutreffenden Druckfehler, bei dem ein Notenkopf genau um eine Linie oder einen Zwischenraum zu hoch oder zu tief erscheint. Benennen Sie den Satzfehler.
Wendet man diese Regel in Verbindung mit der 6#-Variante für die sechste Tonleiterstufe auf den Bass der Passacaglia von Georg Friedrich Händel an, ergibt sich die folgende Harmonisierung:
Aufgabe 6
Verwenden Sie für die Harmonisierung des Basses der c-Moll-Passacaglia von Johann Sebastian Bach die Petite Sixte an den charakteristischen von Hahn genannten Stellen:
In der ebenfalls 1751 in Augsburg gedruckten Generalbassanleitung von Franz Xaver Nauß (Gründlicher Unterricht den General-Baß recht zu lernen […]) findet sich eine außergewöhnliche Harmonisierung der IV. Tonleiterstufe abwärts, wovon das folgende Notenbeispiel Auskunft gibt:
Obgleich diese Harmonisierung wegen der möglichen Quintparallelen zwischen vierter und fünfter Tonleiterstufe aus heutiger Sicht nicht unproblematisch erscheinen mag, dürften sie für das Komponieren im 18. Jahrhundert von Bedeutung gewesen sein. Wolfgang Amadeus Mozart hat diese Möglichkeit zum Beispiel in seinem Kompositionsunterricht berücksichtigt (KV 453b bzw. »Ployer-Studien«, Blatt 3b):
Aufgabe 7
Setzen Sie die folgende Bezifferungen von Nauß und Mozart sowohl drei- als auch vierstimmig aus:
Darüber hinaus finden sich zahlreiche Beispiele für diese Harmonisierungsvariante der IV. Tonleiterstufe abwärts in Kompositionen des 18. Jahrhunderts.
Harmonisierungsvarianten durch Tonleiterwechsel
Eine Bassstimme, die nur mit den Tönen einer Tonleiter auskommt, lässt sich auch nur mit Hilfe einer einzigen Oktavregel harmonisieren. In komponierter Musik jedoch wird die Grundtonart üblicher Weise vorübergehend verlassen. In diesem Fall kann die Oktavregel einer anderen Tonleiter verwendet werden, um die entsprechende ›harmonische Variation‹ (Johann Gottfried Portmann, Leichtes Lehrbuch der Harmonie, Composition und des Generalbasses [...], 1789) zu erzielen. Hierzu ein Beispiel:
Im Bass ist die C-Dur-Tonleiter aus Scheibes Lehrwerk Ueber die Musikalische Composition zu sehen. Die 6#-Variante auf der VI. Tonleiterstufe ermöglicht es, die zusammenhängenden C-Dur-Tonleiterstufen V-VI-VII-VIII als I-II-III-IV-Ausschnitt in G-Dur zu interpretieren. Die in G-Dur harmonisierten Noten sind weiß dargestellt, alle übrigen Noten schwarz.
Aufgabe 8
Interpretieren Sie die Töne am Anfang und Ende der C-Dur Skala in G-Dur. Beziffern Sie zuerst diese Töne im Sinne der Regola und setzen Sie anschließend vierstimmig aus:
Der folgende Bass entstammt der Klavierfassung des ersten Menuetts der Sonate in C-Dur KV 6 von Wolfgang Amadeus Mozart. Die ersten vier Takte sowie die ersten beiden Viertel des fünften Taktes zeigen eine Bezifferung, die an der Regola der C-Dur-Tonleiter orientiert ist, der zweite Viertakter des Menuetts weicht nach G-Dur aus und schließt im achten Takt mit einer förmlichen Kadenz in dieser Tonart (»formbildende Ausweichung«). Ab dem letzten Viertel des fünften Taktes ist daher die Bezifferung der Regola in G-Dur zu sehen. Neu ist in diesem Beispiel der Quartsextvorhalt vor dem Dreiklang der V. Stufe. Dieser Quartsextklang findet sich zwar nicht in dem Beispiel von Scheibe, er ist allerdings für die fünfte Tonleiterstufe sehr charakteristisch und wird daher auch in vielen anderen Quellen als mögliche Harmonisierung der V. Tonleiterstufe erwähnt.
Aufgabe 9
Ergänzen Sie im mittleren System die Oberstimmen, so dass mit dem Bass ein vierstimmiger Generalbasssatz im Sinn der Oktavregeln in C-Dur und G-Dur entsteht.
Im nächsten Beispiel ist ein Ausschnitt der C-Dur-Tonleiter als Abschnitt in der Paralleltonart a-Moll interpretiert worden:
Ausschnitte der C-Dur-Tonleiter lassen sich auch als Abschnitte in F-Dur bzw. d-Moll (Subdominantbereich) interpretieren. Die entsprechende Bezifferung ist in den beiden folgenden Notenbeispielen zu sehen:
Für das letzte Beispiel wurden die Stufen V, VI, VII und VIII als III-IV-V-VI-Abschnitt in e-Moll interpretiert. Diese Bezifferung zeigt die parallele Mollvariante zu der G-Dur-Harmonisierung, die im Vorangegangenen bereits besprochen worden ist:
Aufgabe 10
Ergänzen Sie die notwendigen Gernalbassziffern an der unbezifferten Bassstimme einer Bourée von Georg Friedrich Händel und erstellen Sie einen vierstimmigen Generalbasssatz. Orientieren Sie sich dazu zum einen an der Melodie und zum anderen an der Oktavregel jener Tonart, die in dem entsprechenden Abschnitt von Bedeutung ist. Vergleichen Sie abschließend Ihre Bezifferung mit der aus der alten Händel-Gesamtausgabe.
Noten aus der alten Händel-Gesamtausgabe mit Bezifferung
Die Regola als Analysemodell
Der Sinn des Lernens mit Hilfe der Regola lag − wie bereits erwähnt − im 18. Jahrhundert darin, dass sie Musikerinnen und Musiker dazu befähigen sollte, die ›natürliche Harmonie‹ einer bestimmten Tonleiterstufe zu wissen und dieses Wissen in der Praxis anzuwenden. Dass die Oktavregel dabei einen Einfluss auf das Komponieren im 18. Jahrhundert genommen hat, lässt sich heute über die musikalische Analyse zeigen. Ein bekanntes Stück, das sich beispielsweise über die Oktavregel sehr effektiv analysieren lässt, ist das Präludium in C-Dur BWV 846 von Johann Sebastian Bach:
Aufgabe 11
Analysieren Sie das Präludium BWV 846 von J. S. Bach unter den folgenden Gesichtspunkten:
- Geben Sie die Takte an, die sich angemessen über die Oktavregel beschreiben lassen.
- Chiffrieren Sie die Harmonik dieser Takte mit Hilfe der Tonleiter und Generalbassziffern.
- Notieren Sie einen dreistimmigen Gerüstsatz für die erste syntaktische Einheit des Präludiums.
- Mit welchem Satzmodell lässt sich das Ende des Präludiums beschreiben und wo beginnt dieses Modell?
Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse abschließend mit einer graphischen Analyse im Sinne Heinrich Schenkers von Larry Solomon.
Weitere Beispiele, die zur Analyse mit Hilfe der Regola geeignet sind:
- Georg Friedrich Händel, Sonatina in B-Dur (G 40)
- Johann Sebastian Bach, Sopranarie »Aus Liebe will mein Heiland sterben« aus der Matthäus-Passion BWV 244, T. 1−13
- Joseph Haydn, Thema der 12 Variationen in Es-Dur Hob. XVII:3
- Wolfgang Amadeus Mozart, Durchführung der Sonate in C-Dur KV 279 (S. 3)
Literatur und Weblinks:
- Thomas Christensen, »The ›Regle de l'Octave‹ in Thorough-Bass Theory and Practise«, in: Acta Musicologia 64 (1992), S. 91−117.
- Website von Robert O. Gjerdingen mit vielen Informationen zur Regola, zum Partimentospiel und zu Quellen des 18. Jahrhunderts.
Erstellung des Beitrags: 1. April 2013
Letzte Änderung des Beitrags am 9. Juni 2014