Die Quintfallsequenz mit Synkopenkette
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Das Wissen, dass Synkopenketten aus zwei Stimmen bestehen, von denen eine konsonierend ist und die Dissonanz auslöst (Agensstimme von lat. agere = treiben, handeln), während die andere dissonierend ist und die Dissonanz erleidet (Patiensstimme von lat. pati = leiden, erdulden), ist eine Voraussetzung für dieses Tutorial (Informationen hierzu finden Sie in dem Tutorial Kontrapunkt 1 (16. Jahrhundert) - Eine Einführung im Abschnitt Synkopendissonanz). Das folgende Notenbeispiel zeigt das Zusammenspiel von Agens- und Patiensstimme in Form einer sich stufenweise abwärts bewegenden 7-6-Synkopenkette:
Diese beiden Stimmen lassen sich satztechnisch problemlos vertauschen und eignen sich daher gut für eine Ausarbeitung zum doppelten Kontrapunkt in der Oktave:
Für die Dreistimmigkeit kommt eine weitere Stimme hinzu (melodisch immer eine Terz abwärts, gefolgt von einer Sekunde aufwärts), die sich als Zusatz- oder ZickZack-Stimme bezeichnen lässt (im Folgenden auch Z-Stimme). Unter der Agensstimme bildet die Z-Stimme kontrapunktisch eine 6-5-Seitenbewegung, harmonisch komplettiert sie die zweistimmige 7-6-Synkopenbewegung zur Quintfallsequenz (im Beispiel: e-a-D-G-C-fis-H-e):
Liegt die Z-Stimme über der Agensstimme, wird aus der kontrapunktischen 6-5-Seitenbewegung unter der Agensstimme eine 3-4-Seitenbewegung über der Agensstimme, dass heißt, Sexte und Quinte werden zu ihren Komplementärintervallen Terz und Quarte:
Die nächste Abbildung zeigt eine einfache Verzierung bzw. Diminution (von lat. diminuere = zerkleinern, zerteilen) der Z-Stimme in durchgehenden Achteln. Diese Bewegung hebt die Z-Stimme von den rhythmisch ruhigeren Stimmen (Agens- und Patiensstimme, im Folgenden auch A- und P-Stimme) ab, wodurch wir sie im mehrstimmigen Satz leicht wahrnehmen können:
Dreistimmige Sätze dieser Art sind Bestandteil vieler Kompositionen zwischen 1600 und 1900. Die Prominenz des Satzes basiert nicht zuletzt auf der Tatsache, dass sich alle drei Stimmen oktavversetzen bzw. vertauschen lassen (= dreifacher Kontrapunkt der Oktave), ohne dass inakzeptable ›Fehler‹ auftreten (liegt die A-Stimme im Bass, entsteht zwar eigentlich ein problematischer Quartsextakkord, der jedoch in der Literatur gelegentlich vorkommt und sich durch einen nachschlagenden Grundton klanglich entschärfen lässt). Kennzeichnet man
- die A-Stimme durch eine 1,
- die P-Stimme durch eine 2 und
- die Z-Stimme durch eine 3,
lässt sich die Kombination in der Abbildung oben als 2-1-3 chiffrieren (von oben nach unten gelesen), wohingegen die nachstehende Abbildung die Kombination 3-1-2 zeigt:
Die Kombination der drei Stimmen erlaubt sechs Möglichkeiten (3!= 3 x 2 x 1 ). Benennen Sie die folgenden Möglichkeiten und überprüfen Sie Ihr Wissen durch Berühren der Abbildungen:
Aufgabe 1
Üben Sie alle Kombinationen des dreistimmigen Modells am Klavier:
Der oben beschriebene Satz galt im 18. Jahrhundert als besonders kunstfertig und findet sich bereits in der zeitgenössischen Pädagogik. In einer deutschen Übersetzung des berühmten Lehrbuches von Joseph Fux, eines Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, findet sich beispielsweise der folgende Lehrdialog (S. 133) sowie in der Notentafel XXVI des Anhangs ein dazugehöriges Notenbeispiel:
In einer Originalkomposition lässt sich der Modellsatz zum Beispiel in dem Präludium in e-Moll BWV 555 beobachten, das ursprünglich Johann Sebsatian Bach zugeschrieben worden ist:
Aufgabe 2
- Analysieren Sie das Präludium in e-Moll BWV 555 und benennen Sie das Auftreten des Modellsatzes durch Angabe der Takte sowie der entsprechenden Zahlenkombinationen.
- Erstellen Sie einen Tonartenplan, indem Sie alle Tonarten des Stücks benennen, in denen eine Kadenz stattfindet.
Literatur:
- Ulrich Kaiser, Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen, 2 Bde., Kassel 1998, S. 161−171 (Grundkurs) und S. 328−337 (Aufbaukurs).
- Johann Joseph Fux, Lorenz Christoph Mizler Gradus ad Parnassum: oder Anführung zur Regelmäßigen Musikalischen Composition, Leipzig 1742.
Erstellung des Beitrags: 1. April 2013
Letzte Änderung des Beitrags am 7. März 2020