Motivo di Cadenza (Unterquintmodulation)
Im dritten Band des Traktats ›Documenti armonici‹ (Bologna 1687) zeigt Angelo Berardi unter dem Titel ›Motivo di cadenza‹ einige Notenbeispiele. Ihnen lässt sich leider nicht eindeutig entnehmen, was Berardi unter diesem Begriff verstand. Im Lexikon von Johann Gottfried Walther (1732), der mit Johann Sebastian Bach befreundet war, findet sich dann gut 50 Jahre später ein Eintrag zum Stichwort ›Motivo di Cadenza‹:
Auch Walthers Lexikoneintrag ist heute kaum mehr verständlich. Der Satz wenn die aus der Wechselweise aufsteigenden Quart- und absteigenden Quint-Intervallis bestehende Grund=Stimme ist allerdings ein Indiz dafür, dass Walther als »Motivo di Cadenza« eine spezielle Form der Quintfallsequenz angesehen hat. Eine solche klanglich außergewöhnliche Quintfallsequenz findet sich zum Beispiel in der Es-Dur Fuge im zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers von J. S. Bach (BWV 876):
Die ersten beiden Grundtöne der Quintfallsequenz (g−c) sind im Bass sehr schön zu sehen (in Takt 1 und 3 des Beispiels), die F-Dur Harmonie des nächsten Quintfalls (Takt 5) kann man am Ende noch in den Oberstimmen erkennen.
Aufgabe 1
Führe die Sequenz des ersten Notenbeispiels der Es-Dur-Fuge von J. S. Bach fort (zuerst auf dem Papier, danach spielend am Klavier) und vergleiche Deine Ausarbeitung anschließend mit dem Original.
Notentext der Fuge in Es-Dur BWV BWV 876 von Johann Sebastian Bach.
Doch bevor wir uns die Besonderheit dieser Quintfallsequenz genauer anschauen, betrachten wir für ein besseres Verständnis noch ein weiteres Beispiel aus der Fuge in d-Moll, die sich wiederum im zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers befindet (BWV 875):
In diesem Beispiel wird die Form der Quintfallsequenz sehr kunstfertig verarbeitet. Es gibt eigentlich nur drei Motive (modifizierte Sopranklausel, Tenorklausel und das Sechzehntelmotiv, mit dem der Alt beginnt), die dann oktavversetzt durch die Stimmen ›wandern‹ (Stimmtausch). Einen dreistimmigen Kontrapunkt, der so beschaffen ist, dass er ein oktavversetztes Vertauschen aller Stimmen ermöglicht, nennt man auch einen dreifachen Kontrapunkt der Oktave.
Aufgabe 2
Markiere in dem Notenbeispiel der d-Moll-Fuge von J. S. Bach jedes Auftreten des gleichen Motivs mit jeweils einer Farbe (z.B. rot = Sopranklausel, grün = Tenorklausel und gelb = Sechzehntelmotiv).
Doch was ist nun das Gemeinsame an diesen beiden Quintfallsequenzausarbeitungen? Das Geheimnis liegt in der Behandlung des Leittons:
Im Beispiel oben wurde der Klaviersatz aus der d-Moll-Fuge etwas manipuliert: Hierzu haben wir die Modifikation der Sopranklauseln zurückgenommen, so dass alle Sopranklauseln jetzt in ihrer Lehrbuchgestalt erklingen (Sopran: d-c#-d, Alt: g-f#-g, Bass: c-h-c und wieder Sopran: f-e-f). Jede Station der Quintfallsequenz (A-D-G-C-F) wird also durch eine eigene kleine Kadenz ausgestaltet und auf diese Art zu einem gewichtigen Ereignis gemacht.
Benutzt man diese Manipulation als Folie und betrachtet daraufhin noch einmal das bachsche Original, dann lässt sich verstehen, was Walther mit der Formulierung "der nurgedachten scharffen Terz, über der nota penultima die weiche Terz genommen, welche alsdenn zur folgenden Note der Cadenz die Septima wird gemeint hat. Denn der Leitton (nota penultima) einer jeden Dominante wird bei dem Erscheinen direkt vor dem Grundton erniedrigt (d.h. die große bzw. "scharffe Terz" der Dominante wird zu einer kleinen bzw. "weichen Terz" gemacht), übergebunden und zur Septime der nächsten (quinttieferen) Harmonie. Erklingt in dieser Harmonie die Terz wiederum als große Dur-Terz, entsteht dadurch ein neuer Dominantseptakkord und das Modell kann wiederholt und sequenziert werden.
Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass dieser Trick (Erniedrigung des Leittons in einer Dominante einer Kadenz, um eine Quint tiefer zu gelangen) von den Komponisten des 17., 18. und auch noch 19. Jahrhunderts so standardisiert verwendet worden ist, dass man von einem musikalischen Satzmodell sprechen kann. Und weil es für dieses Satzmodell heute keinen Namen gibt, wird es in Anlehnung an Walther auch als Motivo di Cadenza bezeichnet und zwar selbst dann, wenn es nicht im Rahmen einer Sequenz auftaucht. Zum Beispiel bietet es sich in einer Fugenexposition an, das Motivo-Satzmodell zu verwenden:
Das Beispiel oben zeigt skizzenhaft den Beginn einer Fugenexposition in C-Dur. In ihr erklingt der Dux in C-Dur und der Comes eine Quint höher, also in G-Dur (zu erkennen an der zweistimmigen Kadenz am Ende des Beispiels). Da der nächste (zweite) Dux-Einsatz idealtypisch in C-Dur erklingen muss, besteht nach dem ersten Comes die Notwendigkeit, ein Quint abwärts zu gelangen. Das wiederum lässt sich über das Motivo-Satzmodell bewerkstelligen:
Hierzu muss lediglich die Sopranklausel der Kadenz modifiziert und die so erzeugte kleine Terz der "nurgedachten scharffen Terz" der Dominante übergebunden werden (also aus g-f# wird g-f). Das ›f‹ lässt sich dann als Dominantseptime in einem G-Dur-Akkord oder − wie in dem Beispiel zu sehen − als Quartvorhalt in C-Dur zur Herbeiführung der Ausgangstonart einsetzen.
Aufgabe 3
(für Fortgeschrittene)
Vervollständige die Fugenexposition unter Verwendung des abgebildeten Comes-Einsatzes im Tenor zur Vierstimmigkeit. Moduliere am Ende der Exposition mit Hilfe des Motivo-Satzmodells zurück nach C-Dur und schließe eine Quinfallsequenz in dieser Tonart an.
Literatur und Weblinks:
- Ulrich Kaiser, Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse. Ein Lehrgang mit historischen Beispielen, Aufbaukurs, mit einem Formkapitel von Hartmut Fladt, Bärenreiter Studienbücher Musik Bd. 11 (= BSM 11), hrsg. von Silke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel, mit Audio-CD, Kassel 1998, S. 298−301.
Erstellung des Beitrags: 1. April 2013
Letzte Änderung des Beitrags am 9. Juni 2014