Zu Methoden der musikalischen Analyse
Musiktheoretische Symbole (zum Beispiel Funktionssymbole, Stufensymbole, Changes, etc.) und auch Satzmodelle (zum Beispiel die Quintfallsequenz, der Pachelbel-Bass bzw. Parallelismus, etc.) sind gedankliche Konstruktionen, um einen speziellen Ausschnitt aus der uns umgebenden Umwelt besser verstehen zu können. Solche Konstruktionen sind dabei nicht nur in einer Fachwissenschaft wie der Musiktheorie hilfreich, sondern auch im alltäglichen Leben:
Das, was wir unter ›Zeit‹ verstehen, ist zum Beispiel sehr abstrakt und nur schwer zu begreifen. Man kann das Gefühl haben, dass Zeit schnell oder unendlich langsam vergeht oder sogar still steht. Zeit ist wie ein Fluss, der kontinuierlich in Richtung Zukunft ›fließt‹, der keinen Anfang und kein Ende hat. ›Zeit‹ als Phänomen hat Philosophen und Naturwissenschaftler beschäftigt, doch muss man nicht philosophieren, um mit Zeit praktisch umgehen zu können. Üblicherweise veranschaulichen wir uns Zeit über eine ›Zeitleiste‹ oder einen ›Zeitstrahl‹:
Indem wir auf einer Zeitleiste Ereignisse markieren, die wir uns als Zeitpunkt oder Zeitintervall vorstellen, ritzen wir Markierungen in das Kontinuum ›Zeit‹ wie in die Rinde eines lebenden Baumes. An den Stellen, an denen wir die Zeit auf diese Art ›verletzt‹ haben, stirbt ihre Bewegung und wir können über ein Ereignis in der Zeit wie über einen unbeweglichen Gegenstand nachdenken (zum Beispiel über J. S. Bach oder Britpop). Markierungen in der Zeit sind also abstrakte, rein gedankliche Gliederungspunkte, damit wir mit dem eigentlich Unfassbaren im Alltag besser umgehen können. Im Laufe der Zeit hat sich ein allgemein gültiger Standard für die Gliederung von Zeit durchgesetzt, der uns hilft, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang besser durch den Tag zu hetzen.
Sekunden, Minuten und Stunden sind uns also nicht durch die Umwelt vorgegeben, sondern eine Vorstellungen, die wir in der Regel mit einer bestimmten Absicht verwenden. Und ohne Brücksichtigung dieser Absicht lässt überhaupt nicht sinnvoll entscheiden, ob unsere Zeiteinteilung angemessen oder unangemessen ist.
In Bezug auf eine Meditation zum Beispiel dürfte die Einteilung von Zeit in Minuten unangemessen sein, weil sie das Erreichen des In-Sich-Ruhens erschwert. Die Ruhe, die in der Meditation erzielt werden soll, ist kaum zu vereinbaren mit minutiösen Gedanken (»in wie vielen Minuten muss ich aufhören, um heute noch dies oder jenes schaffen zu können«). Im Hinblick auf das Fahren mit dem ICE hingegen ist genau diese Zeiteinteilung angemessen, denn wir müssen nicht planlos auf dem Bahnhof umherirren, bis wir zufällig einen Zug unserer Richtung finden. Darüber hinaus ist es nützlich, bei Verspätungen ganz genau auf die Uhr zu schauen (denn ab 30 Minuten gibt es Geld).
Wie Minuten das Kontinuum Zeit teilen, markieren die Töne einer Tastatur das Kontinuum der Tonhöhe. Und die auf modernen Flügeln übliche Einteilung (die sogenannte gleichstufig gleichschwebende Temperatur) wird in der Beschäftigung mit alter Musik als unangemessen, in Bezug auf spätromantische Klaviermusik als angemessen beurteilt.
Die Zeiteinteilung ist also eine gedankliche Konstruktion und die Töne unseres Tonsystems sind auch eine (Uhren und Tastaturen sind technische Hilfsmittel dafür). Speziellere Konstruktionen für die theoretisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik sind Satzmodelle wie die Quintfallsequenz, Funktionszeichen und Change-Symbole, Lautstärkediagramme, Buchstabenfolgen (AABA) usw. In der Analyse schnitzen wir nun in den komplexen und in seiner Gesamtheit ›unfassbaren‹ Gegenstand Musik unsere gedanklichen Markierungen (C-Dur, G-Dur, E7, a-Moll, Tonleiter im Bass, strukturelle Sekundschritte der Melodie) und können uns dadurch Teilaspekte (z.B. die Harmonik) einer Musik veranschaulichen. Dadurch werden diese Teilaspekte unserem Handeln verfügbar (zum Beispiel können wir musikbezogene Ansagen vor einem Orchester machen oder Choralsätze oder Rocksongs schreiben). Und wie es im Zusammenhang mit der Zeit schon festgestellt worden ist, sind Diskussionen über die Angemessenheit solcher gedanklichen Konstruktionen ohne die Berücksichtigung der Absicht unsinnig. Wenn jemand etwas über harmonische Verläufe einer bestimmten Musik erfahren möchte, werden ihm auf der einen Seite Rhythmusdiagramme wenig nützen. Auf der anderen Seite gibt es funktional äquivalente Methoden der Analyse (z.B. Funktionsdiagramme, Satzmodelle, Tonleiterverläufe im Sinne Schenkers etc.), wobei jeweils diejenige am positivsten zu bewerten ist, mit der sich die Interpretation eines musikalischen Sachverhalts am besten veranschaulichen lässt. Frei nach dem indonesischen Sprichwort...
»Wer nur einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus«
...ist jede Methode der musikalischen Analyse ein Werkzeug. Dabei bestimmt die Anzahl unserer Werkzeuge den Grad unserer Freiheit im Umgang mit den Gegenständen (Nägeln, Tönen, Harmonien und anderen Bildern an den Wänden unseres Verstandes).
Erstellung des Beitrags: 7. April 2013
Letzte Änderung des Beitrags am 10. Juni 2014