Kontrapunktische Modelle zur Analyse tonaler Musik

von Ulrich Kaiser

In diesem Tutorial geht es um ein Verständnis dafür, dass sich auf einer abstrakten Ebene einfache kontrapunktische Wendungen zur Analyse tonaler Musik einsetzen lassen.

Die 5-6-Seitenbewegung

Die 5-6- und die 6-5-Seitenbewegungen sind zur Erklärung mediantischer Kleinterzbeziehungen in tonaler Musik geeignet. Im Hauptsatz der Waldsteinsonate folgt dem G-Dur des zweiten Taktes ein B-Dur im dritten Takt:

Beethoven Op. 53 Klavier

In der folgenden Abbildung sich Harmoniesymbole unter den Noten und beim Berühren der Abbildung eine kontrapunktische Analyse dieser Taktgruppe zu sehen:

Beethoven Op. 53 Analyse Beethoven Op. 53 Analyse

Die Abbildung zeigt, dass sich der besondere harmonische Übergang zwischen C-Dur und B-Dur nicht nur als eine stufenweise Sequenzierung des Quintanstiegs der ersten beiden Takte interpretieren lässt (C-G / B-F), sondern auch als kontrapunktische 5-6-Seitenbewegung über einem chromatisch absteigenden Bass (c-h-b-a-as-g). Während die Sequenz das trennende Moment bildet (man erkennt die ersten zwei Takte als Etwas und die folgenden zwei Takte als eine Wiederholung davon), sorgt die regelmäßige kontrapunktische Struktur (5-6-5-6) dafür, dass wir die ersten vier Takte als eine musikalischen Einheit wahrnehmen und dass der B-Dur-Akkord keineswegs jene Störung verursacht, den man nach der Interpretation der Funktionstheorie als (seltene) Doppelsubdominante vermuten könnte.

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Stimmtausch mit Oktavdurchgang (3-8-6 / 6-8-3)

Das 3-8-6- bzw. 6-8-3-Gegenbewegung ist eine einfache kontrapunktische Figur, bei der zwei Töne eines Intervalls über eine Gegenbewegung ihre Position vertauschen:

Kontrapunktmodell

Diese Figur findet sich in Vokalmusik des 16. Jahrhunderts gelegentlich und im Außenstimmensatz von Chorälen sehr häufig, z.B. in den Choralsätzen »Ein feste Burg ist unser Gott« aus der gleichnamigen Kantate BWV 80 und »Freu' dich sehr, o meine Seele« aus der Kantate BWV 194 (die Choräle Nr. 76 und 100 der Richter-Ausgabe):

Kontrapunktmodell

Das folgende Beispiel entstammt den Analysen von Heinrich Schenker, der kontrapunktische Figuren auf einer sehr abstrakten Ebene zur Analyse tonaler Musik verwendet hat:

Kontrapunktmodell

Schenker analysiert hier den zweiten Teil der Exposition des Kopfsatzes der Sonate ›facile‹ KV 545. Die nächste Abbildung zeigt Schenkers Analyse sowie die dazugehörige Stelle aus Mozarts Komposition. Beim Berühren der Abbildung werden jene Noten eingefärbt, die Heinrich Schenker als Repräsentation der Kontrapunktfigur interpretiert:

Mozart KV 545 Analyse Mozart KV 545 Analyse

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Stimmtausch (3-6)

Die 3-6-Wendung lässt sich kontrapunktisch als ein Stimmtausch ohne die Oktave als vermittelndes Intervall verstehen, das heißt, zwei Töne wie z.B. c (unten) und e (oben) wechseln ihre Position zu c (oben) und e (unten):

Stimmtausch

Dieses kontrapunktische Modell lässt sich auf einer sehr abstrakten Ebene zur Analyse der Überleitungen der Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur (›Eroica‹) von L. v. Beethoven verwenden:

Beethoven Op. 55 Überleitung

Die Überleitung beginnt mit einem Es-Dur-Akkord in Grundstellung, wobei das Hauptmotiv als Spitzenton den Terzton erklingen lässt (im Streichersatz findet er sich z.B. in den zweiten Violinen). Das Es-Dur des Überleitung-Beginns wird anschließend über einen chromatischen Parallelismus mit einem übermäßigen Sextakkord gese verbunden, der sich als chromatisierter Stimmtausch verstehen lässt:

Beethoven Op. 55 Überleitung

Verallgemeinert gesagt lässt sich diese Erklärung immer dann anführen, wenn in einer Modulation in die Oberquinte die Ausgangstonart über einem übermäßigen Sextakkord mit dem Halbschluss in der Nebentonart verbunden wird.

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