Kontrapunkt und Harmonielehre

von Ulrich Kaiser

Kontrapunkt und Harmonielehre gelten als wichtige Disziplinen im Rahmen der Musikausbildung an Konservatorien und Musikhochschulen (und gelegentlich auch an allgemeinbildenden Schulen mit einem Schwerpunktfach Musik). In diesem Tutorial werden beide Begriffe sowie deren Reichweite erörtert und an einigen Beispielen veranschaulicht.

Inhalt:

  1. Kontrapunnkt
  2. Harmonielehre
  3. Zwei Seiten einer Medaille
  4. Literatur

Kontrapunkt

Kontrapunkt lässt sich im weitesten Sinne definieren als eine Perspektive bzw. gedankliche Konstruktion auf einen musikalischen Gegenstand. Aus dieser Perspektive wird die Beziehung von Klangereignissen in den Blick genommen. Von Bedeutung sind dabei sowohl Zusammenklänge (vertikal) als auch melodische Verläufe (horizontal). Die Zusammenklänge können in älterer Musik aus Noten bestehen (›punctus contra punctum‹) und in aktueller Musik aus Soundfiles (›sample gegen sample‹). In diesem Sinne findet Kontrapunkt immer statt, wenn Klangereignisse aufeinander treffen, weswegen die Frage nicht sinnvoll ist, ob man Kontrapunkt in der aktuellen Musikausbildung noch braucht (er lässt sich beobachten, sobald Musik erklingt). Sinnvoller ist die Frage, wie und welchen Umfang die Reflexion über Musik für ein bestimmtes Berufsziel haben sollte.

In einem engeren Sinne wird Kontrapunkt meist in etablierten Nachschlagewerken erklärt. Im Riemann Musik Lexikon (= RiemannL) werden zur Erklärung des Begirffs beispielsweise die folgenden drei Bedeutungsfelder angeführt:

Kontrapunkt (lat. contrapunctus oder -um; ital. und span. contrapunto; frz. contrepoint; engl. counterpoint), das aus punctus contra punctum (Note gegen Note; [...]) entstandene, seit dem 14.Jh. gebräuchliche und fortan in der mehrstimmigen Musik des Abendlandes zentrale Begriffswort mit den Bedeutungsfeldern: 1) als grundlegendes Satzprinzip, als Satz oder (improvisatorische) Singpraxis und als Satzlehre; 2) als Bezeichnung für die nach dem K.-Prinzip gewonnene Stimme oder für eine ganze kontrapunktische Komposition; 3) als spezielle Satztechnik der Vertauschung oder Versetzung einzelner Stimmen, wodurch ›doppelter‹ oder ›mehrfacher‹ K. entsteht.

Sachs 1967, S. 488.

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Bedeutungsfeld 1: Satzprinzip, Singpraxis und Satzlehre

Am einfachsten lässt sich die Definition verstehen, wenn man sich hierzu frühe satztechnische Formen der Improvisationspraxis vergegenwärtigt. Im Quartorganum (wie auch im Quintorganum) ist es beispielsweise offensichtlich, das eine Note (»punctus«) zu einer anderen Note (»punctum«) gesetzt wird, um eine Melodie bzw. einen cantus firmus zu begleiten.

Da aber während des Begleitens in Quarten (und Quinten) auch übermäßige Quarten (bzw. verminderte Quinten) auftreten können − in der Abbildung wurde deshalb beispielsweise auf die Quarte unter dem Ton e der ›vox prinzipalis‹ verzichtet − dachte man sich Regeln aus, wie sich dissonante und ästhetisch unerwünschten Intervalle vermeiden lassen. Diese Regeln waren also Hilfen für die improvisatorische (Sing-)Praxis, und in ihnen liegen die Anfänge der Kontrapunktlehren späterer Zeiten.

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Bedeutungsfeld 2: Stimme und Komposition

Eine zu einer gegebenen Melodie ausgearbeitete Stimme wird daher auch als Kontrapunkt bezeichnet. Darüber hinaus heißen Kompositionen kontrapunktisch, wenn sie durch eine kontrapunktische bzw. polyphone Ausarbeitung geprägt sind. In diesem Sinne sind ein Kanon, ein Bicinium, eine Motette oder eine Fuge kontrapunktische Kompositionen, wobei auffällig ist, dass diese Begriffe über das einzelne Werk hinaus auch für musikalische Gattungen stehen. Gattungsbildend können ein Text (z.B. in der Messe), eine Besetzung (z.B. Bicinium), die gesellschaftliche Funktion (z.B. liturgische Musik), ein Formtypus (z.B. Sonate) oder auch eine Stilhöhe sein. Jedoch wurden kontrapunktische Abschnitte auch in nicht-kontrapunktischen Gattungen wie z.B. in Liedern, Arien und Sonaten verwendet (oft in der Funktion, einen Kontrast zu Vorhergehendem zu bilden). Zum Beispiel schlägt Robert Schumann in seinem Lied »Auf einer Burg« gleich zu Beginn durch eine kontrapunktischen Ausarbeitung einen Tonfall an, der an alte (kontrapunktische) Zeiten erinnert (die Imitationen werden farbig unterlegt, wenn das Bild berührt wird):

Analog zum kontrapunktischen Komponieren gibt es auch eine Tradition des Schreibens über kontrapunktisches Komponieren. Einen Anfang bildeten die Kontrapunktregeln des Johannes Tinctoris (Liber de arte contrapuncti, 1477), denen die Regeln des Guilelmus Monacus (»De preceptis artis musice et pratice compendiosus libellus«, 15. Jh.) und weitere Anleitung von Glarean (1547), Vicentinus (1555), Zarlino (1589), Artusi (1598) und viel andere mehr folgten. Auf diese Weise entand im Laufe der Zeit eine unübersichtliche Vielzahl von Kontrapunktlehren, von denen die nachstehenden heute in Fachkreisen recht bekannt sind:

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Bedeutungsfeld 3: spezielle Satztechnik

Das dritte Bedeutungsfeld lässt sich am einfachsten anhand einer Fugenkomposition Bachs veranschaulichen, z.B. der Fuge in c-Moll aus Präludium und Fuge BWV 847 (Wohltemperierte Klavier Bd. 1). Die Fuge beginnt mit einem Thema (= rot beim Berühren der Abbildung) im Alt. Wenn dann ab T. 3 das Thema im Sopran erklingt, hat Bach im Alt (= grün) einen Kontrapunkt komponiert:

Lamentobass chromatisiert Lamentobass chromatisiert

Dieser Kontrapunkt hat ein paar besondere Eingenschaften, denn wenn man die Intervalle betrachtet, die auf dem Kavier zusammen angeschlagen werden, fällt auf, dass Bach fast ausnahmslos die Intervalle Terz, Sext, Oktave sowie die verminderte Quinte und Septime (= grün) verwendet hat:

Das hat seinen Grund darin, dass sich die Qualität dieser Intervalle bei ihrer Umkehrung nicht verändert:

  • Sexte (= imperfekt konsonant) wird in der Umkehrung zu einer Terz (= imperfekt konsonant)
  • Terz (= imperfekt konsonant) wird in der Umkehrung zu einer Sexte (= imperfekt konsonant)
  • Oktave (= perfekt konsonant) wird in der Umkehrung zum Einklang oder wieder zu einer Oktave (= perfekt konsonant)
  • Septime (= dissonant) wird in der Umkehrung zur Sekunde (= dissonant)
  • verminderte Quinte (= dissonant) wird in der Umkehrung zur übermäßigen Quarte (= dissonant)

Oder anders formuliert: Alle Intervalle außer die Quarte lassen sich satztechnisch problemlos umkehren, ohne dass sich ihre Qualität und damit ihre satztechnische Verwendung ändern würde. Lediglich die Quinte (konsonant) wird in der Umkehrung zu einer Quarte (dissonant), was eine Gleichbehandlung der komplementären Intervalle verhindert (im Beispiel oben ist die Quarte als sogenannter Durchgang legitimiert, d.h., sie wird schrittweise erreicht und auch wieder verlassen). Ist ein Kontrapunkt auf die beschriebene Weise eingerichtet worden, konnte er als sogenannter doppelter Kontrapunkt der Oktave verwenden werden. Bach demonstriert uns das in den Takten 15−16 derselben Fuge:

Lamentobass chromatisiert Lamentobass chromatisiert

In diesem Beispiel erklingt das Thema in der Unterstimme und der Kontrapunkt in der Oberstimme. Die einzigste Änderungen im Kontrapunkt (Terzsprung ces anstelle des Dezimsprungs aufwärts) hat technische Gründe, denn soweit auseinander liegende Töne können nicht mit einer Hand gespielt werden (mit der linken Hand muss im Original noch eine Bassstimme gegriffen werden) und das es''' wäre auch nicht mehr auf allen damaligen Instrumenten darstellbar gewesen.

Wie bereits erwähnt, wird in diesem Beispiel die »spezielle Satztechnik der Vertauschung oder Versetzung« einer einzelnen Stimmen als doppelter Kontrapunkt bezeichnet, wobei der Zusatz ›in der Oktave‹ die Art der Versetzung angibt. Das Adjektiv ›doppelt‹ gibt an, dass zwei Stimmen an dem Verfahren beteiligt sind. Ein mehrfacher Kontrapunkt kann jedoch auch aus mehr als zwei Stimmen bestehen. Die Königsdisziplin dürfte früher die Erstellung eines ›vierfachen Kontrapunkts der Oktave‹ gewesen sein (Thema und drei Kontrapunkte), also ein vierstimmiger Satz, in dem alle Stimmen vertauscht werden können, ohne dass satztechnische Fehler entstehen. Eine solche Satztechnik ist sehr kunstvoll und schwer auszuarbeiten, selbst bei Bach ist sie eine Besonderheit. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Fuge in f-Moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers (BWV 857). In T. 13−15 erklingt das Thema im Sopran (= rot), der erste Kontrapunkt im Bass (= grün), der zweite Kontrapunkt im Tenor (= blau) und der dritte Kontrapunkt im Alt (= orange):

In den Takten 27−30 vertauscht Bach nun alle Stimmen, so dass das Thema (= rot) im Bass, der erste Kontrapunkt (= grün) im Tenor, der zweite Kontrapunkt (= blau) im Alt und der dritte Kontrapunkt (= orange) im Sopran erklingt:

Auch die Versetzungen in anderen Intervallen war üblich: es gab mehrfache Kontrapunkte in der Dezime, der Duodezime usw. Die folgenden Tabellen zeigen, wie sich Intervalle durch Vertauschung der Stimmen in der Oktave oder der Dezime verändern (die satztechnisch problematische Umkehrungen sind beim doppelten Kontrapunkt der Oktave rot markiert).

Tabelle für den doppelten Kontrapunkt in der Oktave:

Ausgangsintervall 1 2 3 4 5 6 7 8
Intervallumkehrung 8 7 6 5 4 3 2 1

Tabelle für den doppelten Kontrapunkt in der Dezime:

Ausgangsintervall 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Intervallumkehrung 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1

Kirnberger warnte allerdings schon zu seiner Zeit davor, über die Faszination kontrapunktischer Kunstfertigkeit den vielleicht wichtigsten Aspekt von Musik nicht zu vergessen:

Aus Kirnbergers Sicht schienen einige Komponisten angesichts der Herausforderungen des mehrfachen Kontrapunkts nicht ausreichend darauf geachtet zu haben, dass die kapriziösen Klangfolgen auch schön klingen. Die Lehre von den Klangfolgen gilt heute als Kerngeschäft der Harmonielehre.

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Harmonielehre

Auch der Begriff Harmonielehre lässt sich in einem weiteren und einem engeren Sinne verstehen. In einem weiteren Sinn bezeichnet auch Harmonielehre eine Perspektive bzw. gedankliche Konstruktion auf einen musikalischen Gegenstand. Aus dieser Perspektive werden zuerst die Klänge selbst interpretiert und geordnet, wobei in einem zweiten Schritt auch die abstrakte Folge der Klänge in den Blick genommen wird. In diesem weiteren Sinn wäre auch eine Harmonielehre zu atonale Klangebilden (und sogar zur Verwendung von Soundfiles) denkbar.

In einem engeren Sinne zielt die Interpretation der Klänge auf eine Akkordlehre, in der Klänge durch einen Grundton repräsentiert werden. Die Reflexion der Grundtonfortschreitungen und der Stimmführung zwischen Akkordtönen führt dann zur Harmonielehre. Eine Definition in diesem Sinn findet sich im Riemann Musik Lexikon (= RiemannL):

Harmonielehre ist die Lehre vom Aufbau und von der Bedeutung der Akkorde in der dur-moll-tonalen Musik. Dabei meint der Begriff Harmonie alles, was im Akkord und zwischen den Akkorden Zusammenhang stiftet. Die H. ist einerseits eine Theorie der ›natürlichen‹ Beschaffenheit dieser Zusammenhänge, andererseits eine (heute historische) Satzlehre, die sich aus dem Generalbaß entwickelt hat. Theorie und Satzlehre haben sich wechselseitig beeinflußt, so daß theoretische Erkenntnisse häufig nur schwer von praktischen Lehrsätzen zu trennen sind [...].

RiemannL, S. 363.

›Akkord‹ als Fachbegriff

Entscheidend ist, dass hier Harmonielehre und Akkorde untrennbar verbunden werden (»Harmonielehre ist die Lehre vom Aufbau und von der Bedeutung der Akkorde [...]«). Der Ausdruck Akkord wird unter Musikerinnen und Musikern meist umgangssprachlich verwendet, doch verweist er auf einen Sachverhalt, der nicht ganz einfach ist. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat als Akkorde Klänge bezeichnet, bei denen man einen Grundton hört. Akkord und Grundton sind demnach zwei Seiten einer Medaille, was nichts weniger heißt, als dass es kann keinen Akkord ohne Grundton und keinen Grundton ohne Akkord geben kann. Diese Definition ist komplex, weil sie die Existenz von Akkorden an die individuelle Wahrnehmung knüpft: Nehme ich bei einer Folge von zwei Klängen Grundtöne wahr, höre ich Akkorde, wobei dann Harmonielehre als Lehre von den Grundtonfortschreitung zuständig ist. Unzureichende Akkorddefinition hingegen machen glauben, Akkorde seien Klänge, deren Töne sich in Terzen ordnen lassen, wobei der unterste Ton der Grundton ist. Doch diese Definition ist unzureichend: Die Töne c-e-g-a können − je nach Zusammenhang − sowohl die Bedeutung eines a-Moll-Septakkords (mit dem Grundton a) als auch eines C-Dur-Akkord mit hinzugefügter Sexte (Sixte ajoutée mit dem Grundton c) haben. Darüber hinaus wäre es unangemessen, den folgenden Vorhaltsquartsextakkord als a-Moll-Akkord zu bezeichnen, weil man in diesem Zusammenhang die Töne a und c (= rot) als Doppelvorhalt zu den Tönen gis und h (= grün) wahrnimmt bzw. als Vorhaltstöäne zu einem dominantischen E-Dur-Akkord hört:

Konsequenter Weise heißt das aber auch, dass verschiedene Menschen ein und dasselbe musikalische Ereignis verschieden wahrnehmen, also als Akkord oder als (kontrapunktischen) Zusammenklang auffassen können (je nachdem, ob ein Grundton gehört wird oder nicht). In der Musiktheorie ist es deshalb von Bedeutung, ob man von einem Akkord oder von einem Klang spricht, da die jeweilige Benennung Aufschluss über die individuelle Hörweise des Analysierenden gibt.

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Chiffrierungen

»Harmonielehre ist die Lehre vom Aufbau und von der Bedeutung der Akkorde in der dur-moll-tonalen Musik«, die sich über Grundtonfortschreitungen beschreiben lässt. Im Laufe der Geschichte wurden zum besseren Erkennen von Grundtonfortschreitungen unterschiedliche Chiffrierungssysteme verwendet. Im 18. Jahrundert beispielsweise war ein didaktisches Hilfsmittel zur Beschreibung von Harmonieverläufen der Basse fondamentale bzw. Fundamentalbass. Dieser Begriff wurde von dem französischen Komponisten und Musiktheoretiker Jean-Philippe Rameau geprägt, der damit eine gedachte Bassstimme bezeichnete, die aus den Grundtönen der jeweiligen Akkorde besteht. Die Rameaurezeption in Deutschland erfolgte in erster Linie über Kirnberger und Marpurg. Marpurg schreibt über die Basse fondamentale Rameaus:

das Wort Grundbass [bezeichnet, Anm. UK] einen Bass, welcher nichts weiter als die rohen Grundaccorde der in dem Generalbass eines Tonstücks enthaltnen vermischten Accorde ohne die geringste Connexion unter sich darleget. Ich sage ohne die geringste Connexion, weil bei der Darlegung der Grundaccorde nicht auf die Art ihrer Fortschreitung unter sich Bedacht genommen, sondern jeder einzelne Accord des Generalbasses bloss in seine Grundaccorde aufgelöst wird [...].

Marpurg 1776, S. 232.

Während Rameau mit dem Fundamentalbass noch eine Theorie verband, die regulierte, welche Harmonieverbindungen vorkommen dürfen und welche nicht, scheint sich im deutschsprachigen Raum der Fundamentalbass als didaktischen Hilfsmittels durchgesetzt zu haben, der Schülerinnen und Schülern lediglich ein Erkennen von Akkordgrundstellungen im Generalbass erleichtern sollte. In diesem Sinne hat Wolfgang Amadé Mozart in Kompositionsheften für seine Schülerin Barbara Ployer den Fundamentalbass verwendet. Im folgenden ist eine Melodiewendung (die an das »Benedictus‹ aus dem Requiem von Mozart erinnert) sowie ein Bass zu sehen. Der Fundamentalbass darunter war nicht zur Aufführung gedacht, sondern diente der Veranschaulichung, dass zur Harmonisierung nur die Akkorde mit den Grundtönen C und G verwendet worden sind:

Gottfried Weber verwendete dann im frühen 19. Jahrhundert Stufenzeichen, um zu kennzeichnen, welcher Ton Grundton eines Akkordes ist. In der folgenden Tabelle sind seine Stufenzeichen für die Durtonarten zu sehen, wobei kleine hochgestellte Zahlen (wie zum Beispiel V7) einen Septakkord kennzeichneten.

C-Dur d-Moll e-Moll F-Dur G-Dur a-Moll h verm. C-Dur
I ii iii IV V vi vii° I

Hugo Riemann wendete sich gegen Ende des 19. Jahrhundert aus didaktischen Gründen gegen die Generalbassbezeichnung. Ihn ärgerte, dass in C-Dur ein Dominantseptakkord bzw. G7 im Generalbass je nach Akkordumkehrung eine andere Bezifferung erforderte (7, 56 , 34 , oder 24 ) und er schlug vor, anstelle der Generalbassziffern für den Dominantseptakkord unabhängig von der Umkehrung immer ein G+ oder ein D zu verwenden. Neben den drei Hauptfunktionen T (= Tonika), D (= Dominante), S (= Subdominante, bei Weber I, IV, V) wurden Mollakkorde als sogenannte Auffassungsdissonanzen auf die Hauptdreiklänge bezogen und als Parallel- oder Leittonwechselklänge (heute auch Gegenklänge) bezeichnet. Daher kann in C-Dur der a-Moll Dreiklang entweder die Tonika C-Dur (= Tp bzw. Tonikaparallele) oder die Subdominante (= Sg bzw. Subdominantgegenklang) vertreten. Die folgende Tabelle zeigt heute gebräuchliche Funktionssymbole:

C-Dur d-Moll e-Moll F-Dur G-Dur a-Moll h verm. C-Dur
T Sp Tg oder Dp S D Tp oder Sg D T

Doch mit diesen Zeichen werden heute häufig nur Akkorde symbolisiert. Damit wird zwar veranschaulicht, welchen Grundton man bei welchem Akkord hören sollte, aber das ist nicht viel mehr als das, was schon ein Fundament im 18. Jahrhundert geleistetet hat und weit weniger als zu beschreiben, »was im Akkord und zwischen den Akkorden Zusammenhang stiftet«. Aus diesem Grunde werden heute Stufen und Funktionssymbole in den professionellen Musikausbildungsstätten als nicht unproblematisch angesehen. Eine Alternative zu einer weitgehend getrennten Vermittlung von Kontrapunkt und Harmonielehre bilden beispielsweise Satzmodelle, da sich an ihnen sehr gut horizontale und vertikale Aspekte eines musikalischen Verlaufs veranschaulichen lassen.

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Zwei Seiten einer Medaille

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Begriffe ›Kontrapunkt‹ und ›Harmonielehre‹ problematisch sind, wenn damit isoliert linear-horizontale oder harmonisch-vertikale Aspekte von Musik angesprochen werden sollen. Denn in Kontrapunktlehren waren die Zusammenklänge (harmonisch-vertikale Perspektive) seit je her von Bedeutung, während ein gut singbarer Verlauf lang Zeit als Selbstverständlichkeit galt und vernachlässigt werden konnte. In Harmonielehren hingegen wird dem Vermeiden von Parallelen (linear-horizontale Perspektive) viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aus den genannten Gründen ist es hilfreich, sich ›Kontrapunkt‹ und ›Harmonielehre‹ als zwei Seiten einer Medaille vorzustellen. Denn eine Medaille ist (wie Musik) eine Einheit, die sich von zwei Seiten (einer harmonischen und einer kontrapunktischen Seite) beobachten lässt. Vorder- und Rückseite verweisen dabei zwar immer auf denselben Gegenstand, gleichzeitig aber auch auf verschiedene Beobachterperspektiven.

Lamentobass chromatisiert Lamentobass chromatisiert

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Literatur

  • Friedrich Wilhelm Marpurg, Versuch über die musikalische Temperatur, Breslau 1776.
  • Klaus-Jürgen Sachs, Stichwort »Kontrapunkt«, in: Riemann Musik Lexikon, Sachteil, Mainz 121967, S. 488−492.
  • Stichwort »Harmonielehre« (Elmar Seidel?), in: Riemann Musik Lexikon, Sachteil, Mainz 121967, S. 363−366.