Kanonmodelle als Struktur
Vorbemerkungen
Es gibt einige Strukturen in der Musik, die herausragend für das Komponieren von Kanons mit mehr als zwei Stimmen eignen. Obwohl diese Strukturen sehr einfach sind, haben viele Komponisten diese verwendet, um mehrstimmige polyphone Musik bzw. Abschnitte zu komponieren. Zwei dieser Kanons bestehen aus einer Stimme, in der einem Terzschritt ein Sekundschritt in Gegenbewegung folgt, eine weitere Struktur aus einer Terzkette ab- oder aufwärts.
Das Terz-Sekund-Modell abwärts
In der folgenden Abbildung ist eine Stimme zusehen, in der das Terz-Sekund-Modell abwärts führt:
Für den Einsatz einer zweiten Stimme im Abstand einer Note bietet sich die Unterquinte an, so dass ein Unterquintkanon entsteht:
Dieser zweistimmige Kanon lässt sich zur Vierstimmigkeit erweitern. Die dritte Stimme bildet dabei Unterterzen zur ersten, die vierte Stimme Unterterzen zur zweiten Stimme. Beim Berühren der Abbildung erkennen Sie die in Terzen geführten Stimmen an der gleichen Farbe (rot/grün):
Harmonisch lässt sich das Modell als Quintfallsequenz (bzw. als sekundweise fallender Quintfall) interpretieren
Das folgende Beispiel zeigt eine Fuge im Rahmen der Schlusssatzes der Sinfonie Nr. 3 in G-Dur Hob. I:3 von Joseph Haydn. Der Satz beginnt mit einer Exposition, in der das Thema fünfmal erklingt (auf den letzten Einsatz im Sopran wurde aus Platzgründen verzichtet). In der zweiten Violine erklingt zudem ein Kontrapunkt, der beibehalten und über wie unter dem Thema erklingt (= doppelter Kontrapunkt der Oktave). Vergleich man das Thema mit dem Modellsatz oben, beginnt es an der Struktur gemessen mit der zweiten Note bzw. dem Sekundschritt aufwärts (melodisch ist es in den letzten vier Takten der Beispiel transponiert in der Oberstimme zu sehen).
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Indem Haydn als Thema für diesen Fugensatz die modellhafte Struktur wählt, ermöglicht es ihm eine Engführung. Diese erklingt in den Takten 89 ff.:
Quelle: YouTube.
Den Einsätzen in den Violinen folgen Einsätze in den Bratschen und Celli. Für den Einsatz dieser Stimmen wählt Haydn allerdings einen Einsatzabstand von zwei Takten. Führt man die Strukturen der Themeneinsätze weiter, fällt auf, dass die Einsätze drei und vier wie im Modell gezeigt in Terzparallelen zu den Einsätzen ein und zwei verlaufen (beim Berühren der Abbildung sind die zusammengehörigen Stellen mit gleicher Farbe markiert)
Das Terz-Sekund-Modell aufwärts
In der folgenden Abbildung ist eine Stimme zusehen, in der das Terz-Sekund-Modell aufwärts führt:
Für den Einsatz einer zweiten Stimme im Abstand einer Note bietet sich die Unterquarte an, so dass ein Unterquartkanon entsteht:
Dieser zweistimmige Kanon lässt sich zur Vierstimmigkeit erweitern. Die dritte Stimme bildet dabei wieder Unterterzen zur ersten, die vierte Stimme Unterterzen zur zweiten Stimme (jeweils gleiche Farbe rot/Grün).
Harmonisch gesehen entsteht durch diese Kanonstruktur eine Quintanstiegssequenz:
Das folgende Beispiel zeigt einen vierstimmigen Kanon mit der im Vorangegangenen erläuterten Struktur im zweiten Satz der Motette »Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen« Op. 74, Nr. 1 von Johannes Brahms. Brahms ›versteckt‹ die Kanonstruktur durch ein Motiv, das auf den Einsatztönen f, c, b und f beginnt. Mit den Tonwiederholungen nach dem achten Ton der jeweiligen Kanonstimme verlässt Brahms das Schema:
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Terzenketten
In der folgenden Abbildung ist eine melodische Struktur zu sehen, die ausschließlich in Terzen fällt:
Diese Struktur lässt sowohl einen Unterquintkanon zu...
...als auch einen Einklangskanon:
Brahms gestaltet den Hauptsatz des Kopfsatzes seiner vierten Sinfonie in e-Moll Op. 98 mithilfe dieser Struktur, indem er zwei Terzfälle melodisch zu Sextintervallen umwandelt:
Im Folgenden ist der Anfang der Sinfonie zu sehen, beim Berühren der Abbildungen werden die thematische Struktur sowie Unterquint- und Einklangskanon zum Beginn der Überleitung rot eingefärbt:
Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 4 in e-Moll Op. 98, Label: Membran Music Ltd./MCPS 600001/038, Philharmonia Orchestra, Herbert v. Karajan, erstmalige Aufnahme: 1955, Lizenz: CC0 Public Domain.
Der Notentext oben zeigt auch (beim Berühren der Abbildung = grün), dass Brahms die Struktur der Terzenkette aufwärts einsetzt, die sich als Spiegelung verstehen und sich in vergleichbarer Weise zur Kanonbildung einsetzen lässt:
In zeitlicher Nähe zur Ausarbeitung seiner ›Missa canonica‹ WoO 18 (1857) arbeitete Brahms im Selbststudium an der Verbesserung seiner technischen Fähigkeiten. Ein Jahr zuvor kopierte er sich Juni 1856 die Noten der ›Missa Pape Marcelli‹ von G. P. da Palestrina für seine Studien. Dem Beginn des Kyries konnte Brahms sich dabei jene Technik entnehmen, die er in seiner ›Missa canonica‹ ausgiebig einsetze und seither in vielen Kompositionen verwendete:
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Terzen und Quarte in Gegenbewegung
Auch diese Kanonstruktur findet sich im Werk von Johannes Brahms, z.B. im zweiten Satz der Fest- und Gedenksprüchen Op. 109:
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An dieser Stelle verwendet Brahms die Imitationen (bzw. die Kanonstruktur) zur Symbolisierung der Textworte »und ein Haus fället über das andere« (die Kanonstruktur ist beim Berühren der Abbildung rot gekennzeichnet). Die folgende Notenabbildung veranschaulicht die Struktur des Kanons (links) sowie das Modell in einer gebräuchlichen dreistimmigen Ausführung (rechts):
Am Ende des vierstimmigen Magnificats SWV 426 von Heinrich Schütz findet sich eine kanonische Amen-Gestaltung, die melodisch dem Terzfall-Terzfall-Quartstieg-Modell zu entsprechen scheint. Bei genauerer Analyse der rhythmischen Gestaltung zeigt sich jedoch, das sich die Polyphonie des Amen-Abschnitt angemessener durch das Terzfall-Sekundstieg-Modell verstehen lässt (die Gerüsttöne dieses Modells werden beim Berühren der Abbildung grün markiert):
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Erstellung des Beitrags: 12. November 2020
Letzte Änderung des Beitrags am 27. November 2020