Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter dem Titel Das I-x-V-I-Modell bzw. Schema (Satzmodell) und Das I-x-V-I-Modell bzw. Schema (Lexikon) auf der Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Das I-x-V-I-Modell

von Ulrich Kaiser

Das Modell

Abbildung Modell

In der Abbildung ist ein Viertakter mit einer charakteristischen motivischen Gestaltung a-b / a-b (= motivischer Parallelismus) sowie Harmonik I-V / V-I (= harmonischer Chiasmus) zu sehen. Auffällig sind die Töne in der Melodie: c-h und f-e (bzw. in Zahlen, die das Verhältnis zum Grundton c angeben: 8-7 / 4-3). Im Bass erklingen dementsprechend die Töne c-d und h-c (1-2 / 7-1). Robert O. Gjerdingen hat nachgewiesen, dass viele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts komponierte Taktgruppen − insbesondere am Anfang von Abschnitten − sich durch dieses Modell angemessen verstehen lassen. Um die Reichweite des Modells für die Analyse zu erhöhen, soll die zweite Harmonie sowie die Stimmführung variabel sein. Für das I-x-V-I-Modell gilt daher:

  • Für die zweite Harmonie des Modells sind im 18. Jahrhundert sind die I., ii., IV. und V. Stufe funktional äquivalent (andere Einsatzwerte für die zweite Harmonie sind möglich, jedoch untypisch für die Musik des 18. Jahrhunderts).
  • Als Melodiegerüst sollen alle Kombinationen möglich sein, die im Rahmen der I-x-V-I-Harmonik musikalisch sinnvoll sind (also 1-7 / 4-3 wie im Beispiel oben und darüber hinaus 5-4 / 4-3, 1-2 / 2-3, 8-6 / 4-3 usw.).
  • Der motivische Parallelismus (a-b / a-b) ist eine charakteristische Gestaltung für das Modell, auf der Grundlage der I-x-V-I-Harmonik sind jedoch weitere Gestaltungen üblich.

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Beispiele

I-V-V-I

Das Modell mit der eingangs gezeigten Harmoniefolge (x = V) ist wie bereits erwähnt in Kompositionen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgesprochen häufig anzutreffen. Der Beginn des langsamen Satzes aus der Sonate in B-Dur Hob. XVI:2 von Joseph Haydn lässt sich aus der Perspektive dieser Modellvariante verstehen:

Abbildung Haydn, Klaviersonate in B-Dur Hob. XVI:2, 2. Satz

Die melodischen Ausarbeitung der Taktgruppe weist dabei keinen motivischen Parallelismus (a-b / a-b) auf, die Gerüstnoten der Melodie (1-7 / 4-3), der Bassstimme (1-2 / 7-1) und auch die Harmonik (I-V / V-I) entsprechen jedoch dem eingangs abgebildeten Modell. Mit motivischen Parallelismus beginnt dagegen die Klaviersonate in G-Dur KV 283:

Abbildung Mozart, Klaviersonate in G-Dur KV 283, 1. Satz

Der Beginn der Klaviersonate Op. 2, Nr. 3 von Ludwig v. Beethoven weist eine Variante in der Oberstimmenstruktur auf (3-2 / 4-3):

Abbildung Beethoven, Klaviersonate in C-Dur Op. 2, Nr. 3, 1. Satz

In den beiden zuletzt genannten Beispielen lassen sich über das Modell die jeweils ersten vier Takte des Hauptsatzes (bzw. des 1. Themas) verstehen, dessen Ende der Ganzschlusskadenz in der Ausgangstonart signalisiert.

I-II-V-I

Der Anfang der ›großen‹ g-Moll Sinfonie KV 550 von Wolfgang Amadé Mozart lässt sich als I-II-V-I-Variante des I-x-V-I-Modell verstehen:

Abbildung Mozart, Sinfonie in g-Moll KV 550

Eine entsprechende Ausprägung des Modells in Dur findet sich am Anfang des Ave Verum corpus KV 618 von Wolfgang Amadé Mozart:

Abbildung Mozart - Ave Verum

Quelle: YouTube.

Auch in Vokalmusik des 19. Jahrhunderts lassen sich dem I-II-V-I-Schema entsprechende musikalische Anfänge nachweisen. Zum Beispiel am Anfang der Motette Locus iste von Anton Bruckner:

Abbildung Mozart - Ave Verum

Quelle: YouTube.

Vergleichen Sie die beiden motivischen Gestaltungen aus der Perspektive des Schemas und geben Sie an, welche Eigenschaften des Modells Sie in den jeweiligen Beispielen entdecken können:

Abbildung Haydn, Klaviersonate in B-Dur Hob. XVI:2, 2. Satz
Abbildung Mozart, Sinfonie in g-Moll KV 550
Eigenschaft Haydn Mozart
Melodie 8-7 / 4-3 vorhanden
Bass 1-2 / 7-1 vorhanden
Harmonik t-D / D-t vorhanden
Motivischer Parallelismus a-b / a-b vorhanden

I-I-V-I

Die Ausprägung des I-x-V-I-Schema mit der I. Stufe als Variablen findet sich in einem Menuett des Nannerl-Notenbuchs, das Bestandteil der Musikerziehung des 18. Jahrhunderts war:

Abbildung Menuett aus dem Nannerl Notenbuch

I-IV-V-I

Das Schema mit Harmoniefolge I-IV-V-I entspricht der Harmonik einer Standardkadenz, wie sie in zahlreichen Harmonielehren oder Schulheften gelehrt wird. Wichtig ist, dass mit dieser Ausprägung des Schemas zwar die Kadenzharmonik erklingt, jedoch nicht immer eine Kadenz mit entsprechender Schlusswirkung. Die Takte 1-4 des 2. Satzes der wahrscheinlich ersten Sinfonie Mozarts zeigen zum Abschluss des I-IV-V-I-Modells keine Schlusswirkung. Diese entsteht erst durch die Kadenz in den folgenden beiden Takten:

Abbildung Mozart - KV 16, 2. Satz

Mit Schlusswirkung und der Oberstimmenstruktur 5-6 / 7-8 hingegen lässt sich die Modellvariante in einer der ersten Kompositionen W. A. Mozarts KV 2 entdecken:

Abbildung Mozart - Ave Verum

I-VI-V-I

Wird das Schema auch zur Analyse Populärer Musik verwendet, lassen sich hier Harmoniewendungen nachweisen, die für Musik des 18. Jahrhunderts ungewöhnlich sind. Zum Beginn des Songs Living and Dying der aus Hannover stammenden Hard Rock-Formation Scorpions beispielsweise findet sich das Schema mit der Harmonik I-VI-V-I, wobei die VI. Stufe mit einem übermäßigen Quintsextakkord erklingt. Die offenen Quintparallelen beim Übergang von der VI. zur V. Stufe gehören zur Stilistik des Hardrock und sind in dieser Form im 18. Jahrhundert nicht üblich: Abbildung Scorpions, Living And Dying - Intro

Quelle: YouTube.

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Zur Geschichte des Modells

Das I-x-V-I-Modell geht auf Wolfgang Plath zurück. In einem Aufsatz regte er an:

Der scheinbare Widerspruch dürfte sich erst im großen Zusammenhang lösen: vermutlich würde sich dann ergeben, daß der Barocktypus I einerseits dank seiner historischen Wurzeln absolut und für sich steht, anderseits aber zur Zeit Mozarts einfach als eine von mehreren speziellen Möglichkeiten der allgemeinen Initialformel I-(x)-V-I verstanden werden kann; (x) steht dabei für wahlweise V, IV oder II.

Wolfgang Plath, »Typus und Modell«, in: MjB 1975, S. 157.

Wolfgang Plaths Aufsatz könnte Robert O. Gjerdingen zu seiner Spezialstudie A Classic Turn of Phrase. Music and the Psychology of Convention (Philadelphia 1988) angeregt haben, in der sich wissenschaftstheoretische Überlegungen sowie eine empirische Untersuchung zu musikalischen Gestaltungen um 1760 finden. Die Grundform des Schemas nach Gjerdingen zeigt die folgende Abbildung:

Abbildung Gjerdingen Schema

Zum Erkennen von Representationen eines solchen Schemas schreibt Gjerdingen:

But how does one acquire knowledge of a particular musical schema, and what evidence would prove it to be a valid abstraction? One approach, which has already been cited, is a psychological testing (see chapter 1). Another approach is to make a careful study of musical scores and treatises, looking for evidence of shared sets of features [...]
The goal must be to seek evidence that can be arranged in a coherent pattern that either supports or calls into question a theory of musical structure. The theoretical and empirical aspects of researching musical schemata must function together.

Robert O. Gjerdingen, A Classic Turn of Phrase. Music and the Psychology of Convention, Philadelphia 1988, S. 34 und S. 37.

Während die Validierung durch »psychological testing« in der deutschsprachigen Musiktheorie keine Resonanz gefunden hat, ist die Zuordnungen über vergleichender Analysen üblich. Erörterte Wolfgang Plath seinerzeit in erster Linie die Harmonik, ist es ein Verdienst Gjerdingens bzw. amerikanischer Musiktheorie, die strukturelle Bewegung der Oberstimme (im Modell oben beispielsweise 8-7/4-3) sowie des Basses als Eigenschaften des Modells zu reflektieren (»set of features«). 2007 veröffentlichte Gjerdingen sein Buch Music in the Galant Style, in dem er das Modell wie folgt skizzierte:

Abbildung Gjerdingen Schema

Unglücklich wirkt die Namensgebung »The Meyer«, die Gjerdingen für dieses Modell wählt und die eine Huldigung an seinen Lehrer Leonard B. Meyer darstellt, der dieses Modell 1982 aufgrund der Oberstimmenbewegung als »changing-note archetype« und später als »schema« bezeichnet hatte. Im gleichen Jahr (2007) veröffentlichte Ulrich Kaiser eine Studie über Die Notenbücher der Mozarts als Grundlage der Analyse von W. A. Mozarts Kompositionen 1761–1767, in der er den Vorschlag von Plath aufgriff, das Modell um den Aspekt der strukturellen Stimmführung sowie harmonischer Varianten erweiterte und zur Analyse des frühen Schaffens von W. A. Mozart verwendete. Auf diesem Verständnis des I-x-V-I-Modells basiert das vorliegende Tutorial.

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