Dieses Tutorial wird nicht mehr gewartet und ist unter dem Titel Die Verse-Chorus-Bridge-Form auf der OER-Lernplattformen für Musik Open Music Academy für die gemeinsame Arbeit freigegeben worden.

Die Formfunktion Bridge

von Ulrich Kaiser

Die Formfunktion Bridge

Innerhalb etablierter Songformen des 20. Jahrhunderts kommt der Formteil Bridge sowohl in der Verse-Bridge-Form als auch in der Verse-Chorus-Bridge-Form vor. Das folgende Tutorial veranschaulicht, dass die Bridge (B) in der AABA-Form, die für Tin-Pan-Alley-Songformen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch ist und die Bridge in der Verse-Chorus-Bridge-Form, also dem Standard für Mainstream-Rockmusik ab dem 1970er Jahren, dieselbe Formfunktion hat. Diese Beobachtung ermöglicht interessante Einblicke in die Entwicklung der Form und ermöglicht das Erkennen eines formalen Zusammenhangs zwischen Popularmusik der ersten und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die folgende Abbildung veranschaulicht schematisch die AABA-Form, wobei am Ende eines A-Teil sehr häufig ein Refrain erklingt:

AABA-Form

Der Begriff Refrain wird im Deutschen Wörterbuch (Grimm) in dem folgenden Zusammenhang erläutert:

Kehrreim, m. für refrain vorgeschlagen und gebraucht von Bürger […], reim, der am ende jeder strophe wiederkehrt: an der letzten stelle rät er auch kehrsatz m., und kehrum m., auch kehrzeile hat man dafür gebraucht.

In der Literaturwissenschaft wird diese besonders häufige Art des Refrains auch als Endkehrreim oder Schlussrefrain bezeichnet und von einem Refrain, der am Anfang einer Strophe (Anfangsrefrain bzw. Gegenrefrain) oder in der Mitte von Strophen (Binnenkehrreim) auftaucht, unterschieden.

Dass in der Praxis die AABA-Form zur AABABA-Form erweitert wurde, könnte nach John Covach den Grund haben, dass die Wiederholung ausgewählter Abschnitte der AABA-Formen des Tin-Pan-Alley-Repertoires zur Anpassung an die Spielzeit einer 78rpm-Schallplatte notwendig gewesen sind. Im Kontext der Pop- und Rockmusik werden die A-Teile als Verse, die B-Teile als Bridge und die AABABA-form als Verse-Bridge-form bezeichnet. Das folgende Beispiel veranschaulicht die Verse-Bridge-Form (AABABA) anhand des Songs I want To Hold Your Hand von The Beatles, mit einem Refrain am Ende der Verse-Abschnitte sowie einer Wiederholung der Abschnitte Bridge und Verse:

The Beatles - I Want To Hold Your Hand

Diese Form ist nicht nur den 1963 erschienenen Song I want To Hold Your Hand charakteristisch, sondern für alle frühen Songs der Fab-Four prägend. Auffälliges Merkmal für diesen Formtyp ist das zweimalige Auftreten der Bridge sowie das Fehlen eines musikalisch eigenständigen Chorus-Formteils. Der Titel I'll Cry Instead zeigt ein weiteres Beispiel aus dem Repertoire von The Beatles:

The Beatles - I'll Cry Instead

Heute wird mit dem Begriff Refrain jedoch häufig ein längeren Textabschnitt bezeichnet, der im Chrous erklingt oder der Begriff wird sogar als Synonym für den Begriff Chorus verwendet. Ken Stephenson hat darauf hingewiesen, dass die Bridge in der Verse-Bridge-Form und in der Verse-Chorus-Bridge-Form in derselben Formfunktion erklingt:

Abbildung nach Ken Stephenson

Das Schema verdeutlicht, dass der Refrain am Ende der Verse-Formteil sich durch Wiederholung und musikalische eigenständige Ausarbeitung zum Chorus entwickelt haben könnte, wobei die Bridge (B) der AABA-Form und die Bridge (C) der Verse-Chorus-Bridge-Form hinsichtlich ihrer formalen Position konstant bleibt. Um die etablierten Begriffe im Rahmen formaler Analysen genau verwenden zu können, kann der Refrain (Text) am Ende eines Verse als Refrainzeile sowie eine umfangreichere Textwiederholung als Refrain bezeichnet werden. Darüber hinaus lässt sich der Begriff Chorus für eine hervorgehobene musikalische Gestaltung reservieren. Diese Differenzierungen ermöglichen eine eigenständige Textanalyse auf der einen Seite und auf der anderen die Verwendung des Begriffs Chorus auch für Songs, in denen entsprechende Gestaltungen nicht mit einem Refrain bzw. einer Wiederholung des Textes einhergehen (z.B. wie in dem bekannten Song The Winner Takes It All der Gruppe ABBA).

Das bisher Gesagte lässt sich an Songs praktisch veranschaulichen. Das nächste Beispiel Ob-La-Di, Ob-La-Da von The Beatles zeigt eine etwas gewichtigere musikalische Gestaltung zum Text des Songtitels. Eine Bezeichnung Chorus könnte sich an der weiträumigen Melodie stützen, darüber hinaus jedoch ist der Chorus dem Verse klanglich noch sehr ähnlich. Diese Ähnlichkeit wird auch durch die zwei Bridges greifbar, die für einen Song mit Chorus als nicht charakteristisch gelten darf:

The Beatles - Ob-La-Di, Ob-La-Da

Das nächste Beispiel zeigt einen Song in der Verse-Chorus-Bridge-Form, in dem der Chorus mehrmals und die Bridge nur noch einmal erklingt. Darüber hinaus wird der Chorus sowohl von der musikalischen Gestaltung als auch vom Mix her deutlich hervorgehoben:

Aerosmith - Jaded

Die Wiederholung des Verse-Formteils nach der Bridge dürfte nicht so häufig sein wie eine mehrmalige Wiederholung des Chorus-Formteils. Eine musikalische Differenzierung kann dabei durch die Verwendung eines partial Chorus erfolgen wie zum Beispiel in The Future Never Dies der Scorpions aus Hannover. In diesem Song werden Verse und Chorus zudem durch eine eigenständige Gestaltung verbunden (Prechorus):

Scorpions - The Future Never Dies

Eine musikalische Differenzierung kann jedoch auch durch eine klangliche Zurücknahme des Chorus erfolgen, wodurch nachfolgenden Chorus-Gestaltungen wieder gewichtig und nicht ermüdend erklingen wie z.B. in God Gave rock'n Roll To you von KISS:

Kiss - God Gave Rock'n Roll To You

Bitte beachten Sie den instrumentalen Chorus am Anfang des Songs, der musikalisch eigenständig und nicht Bestandteil der Intro ist.