Cadentia duriuscula

von Ulrich Kaiser

Christoph Bernhard kam 1648 − also zeitgleich zur Publikation der Geistlichen Chormusik von Heinrich Schütz − als 20jähiger Sänger an die Dresdener Hofkapelle. Heinrich Schütz war hier Kapellmeister und dürfte einen großen Einfluss auf den jungen Bernhard gehabt haben. Noch vor der Pensionierung von Schütz wurde Bernhard 1655 zum Vizekapellmeister bestellt. Von 1663 bis 1774 arbeitete Bernhard dann als Musikdirektor und Kantor an der Jakobikirche in Hamburg, bevor er nach Dresden zurückkehrte, um dort das Kapellmeisteramt sowie die Rolle des Prinzenerziehers zu übernehmen.

In Bernhards Tractatus compositionis augmentatus findet sich eine musikalische Figur, die er cadentia duriuscula nennt und für die er folgenden Beispiele sowie Erklärungen gibt:

Abbildung Bernhard
  1. Cadentiae duriusculae sind, welche etwas seltsame Dissonantzen vor denen beyden Schluß-Noten annehmen.
  2. Solche werden fast nur in Soliciniis und meistentheils in Arien und Tripeln angetroffen.
  3. Da aber einige in mehrstimmigen [Sachen] gefunden würden, so werden die übrigen Stimmen dermaßen gesetzt, daß solche keine Mißhelligkeit spühren lassen.

Bernhard Tractatus, zit. nach Müller-Blattau 1999, S. 82.

Bernhards Kadenz-Beispiele beginnen (aus moderner Sicht) mit einem dominantischen Akkord, von dem aus über eine Bassbewegung ein subdominantischer Septakkord angesteuert wird, der sich anschließend über eine Dominante in eine Tonika auflöst. Denkt man über dieses Phänomen und Kadenzwendungen im 17. Jahrhundert nach, bestehen Beziehungen zu den folgenden Kadenzen, die sich im Sopran, Alt und Bass als einfache Wechselnoten (Drehnoten) verstehen lassen. Je nach der Bewegung des Tenors − in der folgenden Abbildung die unterste Stimme im Violinsystem − entstehen zwischen den dominantischen Klängen verschiedene subdominantische Klänge:

Abbildung cadentia durisucula Abbildung cadentia durisucula

Das Beispiel zeigt:

  • Eine zwischen zwei Dominanten eingeschobene grundstellige Subdominante, die durch eine dreifache Wechselnote (Sopran, Alt, Bass - beim Berühren der Abbildung = grün) und eine Ausgleichsbewegung im Tenor (= rot) entsteht.
  • Einen zwischen zwei Dominanten eingeschobenen subdominantischen Quintsextakkord, der durch eine dreifache Wechselnote (Sopran, Alt, Bass = grün) und einen Liegeton im Tenor (= rot) entsteht.
  • Einen zwischen zwei Dominanten eingeschobenen subdominantischen Septakkord, der durch eine vierfache Wechselnote (Sopran, Alt, Tenor, Bass = grün) entsteht (vergleichbar mit den Beispielen Bernhards).

Diese Kadenzen klingen für heutige Ohren und in Kenntnis von Musik des 17. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich, Christoph Bernhard konnte sich seinerzeit für ihren Gebrauch nicht erwärmen (»zumahl weil, wie ich dafür halte, es allemahl beßer ist, dieselben gäntzlich zu meiden«, ebd.). Ein maniristischer Gebrauch dieser Kadenzwendungen hingegen kann außergewöhnlich und musikalisch sehr reizvoll klingen, wie das folgende Beispiel von Heinrich Schütz zeigt:

Abbildung Schütz Abbildung Schütz

Der abgebildete Abschnitt aus der Motette »So fahr ich hin« aus der Geistlichen Chormusik (1648) weist einige Besonderheiten auf:

  • die rhythmische Bewegung ist hier ruhiger als in den übrigen Motettenabschnitten (›weiße Notation‹),
  • chromatische Terzbeziehungen zum Text »so schlaf« (C-Dur -> A-Dur und G-Dur -> E-Dur) sowie
  • halbverminderte Septklänge (in erster Umkehrung bzw. als Quintsextakkord) zum Wort »ruhe« (g-b-d-e und h-d-f-a).

Die folgende Notation zeigt, dass der erste Abschnitt des Beispiels aus der Motette sich auf das Modell einer Kadenz auf d zurückführen lässt. Verkürzt man alle Klänge in der Motette, lässt sich die ganze Passage über das Beispiel c der Abbildung oben und damit als eine Ausprägung der cadentia duriuscula verstehen.

Abbildung Bernhard

Im Vergleich des Originals mit dem Modell zeigen sich Unterschiede lediglich darin, dass Schütz den Quartvorhalt suspendiert sowie die Klänge stark gedehnt hat. Beides bewirkt eine flächige Gestaltung, die nicht mehr an die Mechanik einer Kadenz erinnert, sondern eine musikalische Entsprechung zum ›Einschlafen‹ und ›Ruhen‹ (im wörtlichen) sowie zum ›Sterben‹ und zur ›Erlösung‹ (im übertragenen bzw. christlich-symbolischen Sinne) bildet. Die Takte 32–37 in der Motette sind im technischen Sinn eine Transposition der Takte 25–31, musikalisch lassen sie sich als Wiederholung im Sinne einer Steigerung verstehen.

Literatur:

  • Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hrsg. von Joseph Müller-Blattau, Kassel 31999.