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Der verminderte Septklang bzw. Septakkord

von Ulrich Kaiser



Töne und Auflösung

Der verminderte Septakkord zählt zu den vagierenden Akkorden (Schönberg 1922) oder ›symmetrischen Klängen‹ (Erpf 1927). Auf dem Klavier haben die Töne des verminderten Septakkords alle den gleichen Abstand zueinander. In Tasten gedacht gibt es daher nur drei verschiedene verminderte Septakkorde (z.B. auf h, c und cis). Denn die Tasten des verminderten Septakkords auf d sind die gleichen wie die des verminderten Septakkords auf h (beim Berühren der Abbildung werden die drei verminderten Septkakkorde farbig markiert).

drei verminderte Septakkorde über h, c und cis drei verminderte Septakkorde über h, c und cis

Die besondere Struktur des verminderten Septklangs mag dafür verantwortlich gewesen sein, dass er im Laufe der Geschichte tatsächlich für vielfältige und musikalische attraktive Gestaltungen verwendet worden ist. In diesem Tutorial können Sie Gestalt und Verwendungsweisen des verminderten Septklangs kennenlernen und üben.
Das folgende Beispiel zeigt den verminderte Septklang auf den Tönen h, d, eis und gis (bei der Notation wurden Doppelvorzeichen vermieden):

verminderte Septakkorde über h, d, eis und gis

Achten Sie darauf, dass Sie beim Spiel dieser Klänge immer die gleichen Tasten greifen. Sobald Sie jedoch einen verminderten Septakkord notieren, lässt sich eine Grundstellung ermitteln, die aus drei kleinen Terzen besteht (Achtung: eine übermäßige Sekunde ist keine kleine Terz, obgleich sie auf den Klaviertasten so aussieht). Von dieser Grundstellung kann dann die Auflösung leicht bestimmt werden: Der tiefste Ton der Terzenschichtung ist ein Leitton des verminderten Septklangs, der sich in den Grundton auflöst (h-d-f-as löst sich also nach c auf, d-f-as-ces nach es auf usw.).
Der verminderte Septakkord kann nicht mit weißen Tasten (Stammtönen) gebildet werden, mindestens ein chromatischer Ton (schwarze Taste) ist notwendig. Als ›natürliches‹ Vorkommen des verminderten Septklangs wird die erhöhten VII. Tonleiterstufe in Moll angesehen (harmonisch Moll), seine ›natürliche‹ Auflösung führt daher nach Moll.

verminderte Septakkorde über h, d, eis und gis

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Rechenwege

Wenn Sie einen verminderten Septakkord als Dominante, Doppeldominante oder Zwischendominante ausrechnen möchten, ist der Rechenweg eigentlich immer der gleiche (die Lösungen für die drei Aufgaben können Sie sehen, wenn Sie die Abbildung berühren). Nur auf eine Sache müssen Sie achten:

Rechenweg Dv Rechenweg Dv

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Beispiele aus dem 16. und 17. Jahrhundert

Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat vorgeschlagen, musikalische Klänge, bei denen man einen Grundton wahrnimmt, als Akkorde zu bezeichnen und von kontrapunktischen Klängen zu unterscheiden, die mit keiner Grundtonwahrnehmung verbunden sind. Akkord und Grundton sind demnach zwei Seiten einer Medaille, weil es nach dieser Definition keinen Akkord ohne Grundton und keinen Grundton ohne Akkord geben kann. Obgleich nach dieser Definition der Akkordbegriff von der subjektiven Wahrnehmung abhängig ist und deshalb verschieden ausfallen kann, werden im Folgenden historisch früh auftretende Beispiele für das Phänomen der verminderten Septime als verminderte Septklänge, historisch später entstandene als verminderte Septakkorde bezeichnet.
Vereinzelte verminderte Septklänge lassen sich schon zum Beginn des 17. Jahrhunderts nachweisen. Ein frühes Beispiel findet sich im zweiten Teil des Madrigals »Hor che 'l ciel e la terra e 'l vento tace« aus dem VIII. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi, das 1638 in Venedig gedruckt worden ist. Über einem passus duriusculus (einen chromatischen Gang) im Bass aufwärts erklingt hier über gis ein verminderter Septklang. Die Töne gis-h-d-f lassen sich dabei in einem modernen Sinne als dominantisch zu einem a-Moll-Dreiklang interpretieren (die entsprechende Stelle wird beim Berühren der Abbildung farbig markiert):

Monteverdi Dv Monteverdi Dv

Vergleichbare, nur noch ein wenig früher komponierte Stellen aus dem Werk Monteverdis zeigen, dass die verminderte Septime als ein besonderes Intervall keineswegs nur in Zusammenklängen anzutreffen ist, die sich über eine Terzenschichtung verstehen lassen. Die folgenden beiden Beispiele sind dem V. und VI. Madrigalbuch entnommen. Am Ende des Madrigals »Ma tu più che mai« aus dem V. Madrigalbuch (1608) hören Sie in den unteren Stimmen einen verminderten Klang (cis-e-b, während das d des Soprans sich nicht als Teil eines verminderten Akkords verstehen lässt (beim Berühren der Abbildung rot markiert). Im unteren Beispiel aus dem Madrigal »O chiome d'or« des VI. Madrigalbuchs (1614) lässt sich wiederum der verminderte Klang gis-h-d-f in einem modernen Sinn als Dominante zu dem vorausgehenden und folgenden (nicht mehr abgebildet) a-Moll-Klang interpretieren (beim Berühren der Abbildung grün markiert):

Monteverdi Dv Monteverdi Dv Monteverdi Dv Monteverdi Dv

In diesem Sinne lassen sich auch vereinzelte Beispiele nachweisen, die sogar bereits im 16. Jahrhundert komponiert worden sind. Die folgene Passage entstammt dem Madrigal »Se quel dolor che va inanzi al morire« aus dem VI. Madrigalbuch (1595) von Luca Marenzio.

Monteverdi Dv Monteverdi Dv

In dieser Passage finden sich zwei auffällige Septimen zu chromatischen Tönen im Bass (cis-b und fis-e). Über der Note cis ist ein Klang zu hören, der sich aus heutiger Sicht als verminderter Septakkord verstehen lässt (beim Berühren der Abbildung rot markiert), die Struktur des zweiten Klangs könnte sogar als ein dominantischen Nonenakkordakkord (ohne Septime) oder als ein sogenannter Add-Chord (D add 2) interpretiert werden. Durch Klänge wie in dem Madrigal »Ma tu più che mai« von Monteverdi (oben) können wir allerdings davon ausgehen, dass um 1600 dissonante Klangschichtungen, die sich als Akkord verstehen lassen und solche, die nicht als Akkord interpretierbar sind, relativ gleichberechtigt nebeneinander gestanden haben (und somit von den Komponisten mit großer Wahrscheinlichkeit noch nicht als ein Akkord im neueren Sinne ›gedacht‹ bzw. gehört worden sind).

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Der verminderte Septklang als Signalakkord

Dem verminderten Septklang bzw. Septakkord wird üblicherweise eine textausdeutende Funktion bzw. eine symbolische Bedeutung zugeschrieben. Doch schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte der verminderte Septakkord im Rahmen der Kadenz eine syntaktische Funktion. Das folgende Beispiel aus dem Concerto grosso Op. 6, Nr. 1 in D-Dur von Arcangelo Corelli zeigt den verminderten Septklang in einer solchen Funktion (beim Berühren der Abbildung grün markiert):

Corelli DDv Corelli DDv

In dieser Position − also aus moderner Sicht als doppeldominantischer Akkord − wird der verminderte Septklang im Folgenden als Signalakkord bezeichnet, weil er ein charakteristisches Signal für eine (meist formal wichtige) Dominante eines Ganz- oder Halbschlusses ist. In der folgenden Abbildung ist der verminderte Septklang als Signalakkord (Doppeldominante) verschiedener Kadenzen zu sehen:

der verminderte Septakkorde als Signalakkord (Doppeldominante)

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Beispiele aus dem 18. Jahrhundert

Es gibt beeindruckende Beispiele in der Vokalmusik von Johann Sebastian Bach dafür, dass der verminderte Septklang bzw. -akkord im 18. Jahrhundert eine symbolische Funktion haben und zur Textverdeutlichung eingesetzt werden konnte. Der Musiktheoretiker Clemens Kühn schrieb hierzu:

Der verminderte Septakkord – so die elementare Akkordlehre – ist aufgebaut aus drei kleinen Terzen, klanglich identisch mit seinen Umkehrungen, technisch gut geeignet für Modulationen. Wirklich wesentlich aber ist demgegenüber sein Rang als ein Akkord, der bestimmte Ausdrucksbereiche umschließt. Der wuchtige »Barrabam«-Schrei der Matthäus-Passion ist ein Verminderter. Wo bei Bach von Kreuz, Sünde, Welt, Plage, Tod gesprochen wird, hat bevorzugt dieser Akkord seinen Platz [...]

Clemens Kühn, Stichwort ›Akkord‹, in: MGG, Bd. 1, 21994, Sp. 363.

In dem folgenden Beispiel sehen Sie die von Clemens Kühn erwähnte Barrabam-Passage aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach:

Bach DDv 1 Bach DDv 1

Doch wäre es unangemessen, jedem verminderten Septklang im 18. Jahrhundert eine symbolische Funktion andichten zu wollen. In der Instrumentalmusik Bachs finden sich viele verminderte Septklänge, die − wie übrigens auch der Neapolitaner − in erster Linie eine syntaktische Funktion im Rahmen einer Kadenz hatten. Am Ende des Präludiums in D-Dur (BWV 850) von Johann Sebastian Bach scheinen beide Funktionen zutreffend zu sein: Einerseits ist hier der verminderte Septklang Signalakkord der abschießenden Kadenz (Dopppeldominante), andererseits wirkt er wie eine hoch ausdrucksvolle, ›beredte‹ Geste bzw. Schlussgestaltung.

Bach DDv 2 Bach DDv 2

Verminderte Septklänge waren in einigen Gattungen wie der Fantasie besonders beliebt. In der Fantasie in a-Moll BWV 561 von J. S. Bach sind vier große harmonische Flächen zu sehen: a-Moll, e-Moll, d-Moll und C-Dur. Nach dem Anfang in a-Moll werden die folgenden Flächen e-Moll, d-Moll und C-Dur jeweils durch verminderte Septklänge dominantisch herbeigeführt (dis-fis-a-c -> e-Moll, cis-e-g-b -> d-Moll und h-d-f-as -> C-Dur). In der abschließenden C-Dur-Kadenz erklingt zudem als Signalakkord der doppeldominantische verminderte Septakkord fis-a-c-es -> G-Dur -> C-Dur (beim Berühren der Abbildung werden die verminderten Septklänge grün markiert):

Bach DDv 3 Bach DDv 3

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Besondere Auflösungsmöglichkeiten

Nicht erst im 19. Jahrhundert lassen sich Beispiele dafür finden, dass verminderte Septakkord in einer nicht-dominantischen Funktion vorkommen. Johann Philipp Kirnberger erwähnt eine »picante« Verwendung des verminderten Septakkords als plagale Kadenz, also als einen Ersatz für den Sixte ajoutée (bzw. in subdominantischer Funktion):

Der verminderte Septakkord als Sixte ajoutée Der verminderte Septakkord als Sixte ajoutée

Das erste Beispiel zeigt einen Sixte ajoutée im Sinne Rameaus mit einer regulären Auflösung, das zweite Beispiel einen verminderte Septklang in der Funktion dieses Sixte ajoutées (also einer satztechnischen Subdominante). Während die ersten Beiden Beispiele heute als plagale Wendungen interpretiert würden, zeigt aus heutiger Sicht das dritte Beispiel eine dominantische Auflösung des verminderten Septakkords. Eine Komposition, in der sich die sehr effektvoll eingesetzte plagale Auflösung eines verminderten Septklangs studieren lässt, ist die Fantasie in g-Moll BWV 542 von J. S. Bach. Die Fantasie beginnt mit einem tonikalen Orgelpunkt (am g im Bass leicht zu erkennen), der sich über den Klang cis-e-g-b plagal in einen D-Dur-Akkord auflöst (also die Unterquarttransposition der zweiten von Kirnberger genannten Klangverbindung).

Der verminderte Septakkord als Sixte ajoutée bei Bach Der verminderte Septakkord als Sixte ajoutée bei Bach

Die funktionale Mehrdeutigkeit verminderter Septklänge hat dazu geführt, dass sie ganz allgemein als spannungsreiche Klänge interpretiert werden, die sich über Halbtonbewegungen in einen spannungsärmeren Klang auflösen. Die folgenden Notenbeispiele zeigen den verminderten Septklang, der über einen einfachen Vorhalt in einen Dominantseptakkord geführt wird, das heißt: Wird ein Ton eines verminderten Septklangs eine kleine Sekunde abwärts bewegt, entsteht ein Dominantseptakkord, der anschließend weiter aufgelöst werden kann (oder auch nicht):

der verminderte Septakkorde als Signalakkord (Doppeldominante)

Ein verminderter Septklang kann auch in einen Dominantseptakkord überführt werden, indem man drei Stimmen als Vorhalt stufenweise aufwärtsbewegt (dreifacher Vorhalt), zum Beispiel:

der verminderte Septakkorde als Signalakkord (Doppeldominante)

Die Verwendung des verminderten Septklangs als dreifachen Vorhalt findet sich am Ende des Confutatis im Requiem KV 626 von W. A. Mozart. Beim Berühren der Abbildung werden die verminderten Septklänge rot, die Dominantformulierungen gelb und die tonikalen Auflösungen grün markiert:

Verminderter Septakkord als dreifacher Vorhalt Verminderter Septakkord als dreifacher Vorhalt

Eine weitere Referenz für den verminderten Septakkord als dreifachen Vorhalt erklingt in dem Lied »Ich grolle nicht« aus der Dichterliebe Op. 48 von Robert Schumann:

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Literatur

  • Hermann Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig 1927, 2. Aufl. 1969.
  • Clemens Kühn, Art. Akkord, III., in: MGG2, Kassel, Stuttgart u.a. 1994.
  • Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 1911, 3. verm. u. verb. Aufl. 1922.